Schöne Verlierer

Sicherheit, Ruhe, Ordnung – das waren Fremdwörter im Leben der 2004 verstorbenen US-Autorin Lucia Berlin. Ihre Storys sind souveräne Kantengänge in den Randzonen menschlicher Existenz.

Angela Schader
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Tough und empfindsam zugleich – Lucia Berlin vor ihrer Schreibmaschine. (Bild: Paul Suttman / Literary Estate of Lucia Berlin)

Tough und empfindsam zugleich – Lucia Berlin vor ihrer Schreibmaschine. (Bild: Paul Suttman / Literary Estate of Lucia Berlin)

Sie muss den Song gekannt haben: Freedom's just another word for nothin' left to lose . . . Sie muss ihn gekannt haben, diese ruhelose, querständige, einzig im Schreiben beheimatete Frau, auch wenn von Janis Joplin in ihren Erzählungen nur einmal en passant die Rede ist. Die Rede ist stattdessen – beispielsweise – von einem Liebespaar, Alkoholiker beide, das einen Sommer lang jeden Abend heimlich ein anderes Haus im Stadtzentrum von Oakland erklimmt, um auf dem Dach zu nächtigen. Oder von Sally, die schöner und wilder aufblüht, je mehr der tödliche Krebs in ihrem Körper wuchert, «als wäre das Urteil ein Geschenk».

Lucia Berlin heisst die Schriftstellerin, die diese Figuren schuf. Der Arche-Verlag und Antje Rávic Strubel als engagierte Übersetzerin haben der 2004 verstorbenen Amerikanerin vergangenes Jahr einen markanten ersten Auftritt im deutschsprachigen Raum verschafft; nach «Was ich sonst noch verpasst habe» folgen nun in einem schmaleren Band die restlichen Erzählungen aus «A Manual for Cleaning Women», der 2015 in den USA erschienenen Neuausgabe von Berlins besten literarischen Texten.

Ein schwebendes Universum

«Was sind deine Pläne für die Zeit als Rentnerin? Für deine Zukunft?» – «Zukunft»? – «Hast du was gespart? Eine private Rentenversicherung, etwas in der Art?» Ein Gespräch, das sich trefflich über einer Tasse Kräutertee führen liesse und vor dem wir, sässen wir im Café gleich nebenan, wohl gelangweilt die Ohren verschliessen würden. In Lucia Berlins Werk dagegen wirkt der Dialog wie eine Übung in absurdem Theater; wie ein Fremdkörper, von dem sich wuchtig abstösst, was ihr Erzählen ausmacht.

Zukunft, Rente, Sicherheit: Das sind Wörter für Leute, die etwas zu verlieren haben, das sind, geben wir es zu, Wörter für Menschen, die nach dem Abendessen durchs Feuilleton blättern oder ein Buch aufschlagen können. Für eine Frau, in deren Existenz sich schwere Alkoholabhängigkeit mit der Verantwortung für vier Söhne verklammert, die sie mehrheitlich allein aufziehen muss, eine Frau, die durch ihr krankes Rückgrat ins Korsett gezwungen wird, während sie doch mit jeder Faser ins Leben strebt – für eine Frau wie Lucia Berlin sind solche Begriffe so ungreifbar und lebensfern wie ein Kometenschweif.

Auch wenn Berlins Erzählungen mehrheitlich die zerklüftete Landschaft ihres eigenen Lebens ausmessen, warnt Antje Rávic Strubel zu Recht davor, den «anderen, sprachlichen Ort», den diese Texte schaffen, einfach mit dem faktisch Erlebten gleichzusetzen. Programmatisch wird der Band denn auch mit einer Reflexion über «Die Frage der Perspektive» eröffnet, die Berlins Leichthändigkeit im Umgang mit literarischen Identitäten vorführt – ein Zauberspiel, das sich am Ende zart wie ein Lufthauch in ein Rätsel auflöst. Das schwebende und dennoch kohärente Universum, das sich dem Leser ihrer Storys öffnet, die Begegnung und Wiederbegegnung mit Figuren, die zugleich kenntlich und wandelbar bleiben, die Präsenz eines starken erzählerischen Ich, das sich in immer anderen Ausprägungen zeigt und dadurch jedem festen Zugriff entzieht: Darin konstituiert sich die Freiheit, die Lucia Berlin ihrem alles andere als ungebundenen Leben abrang.

Doppelbelichtung

Da kann es geschehen, dass die Hauptfigur mitten in der Geschichte aus sich selbst heraustritt und kommentarlos von der Ich-Perspektive in die dritte Person überwechselt. Man stutzt, fragt sich einen Moment lang, ob eine neue Gestalt unhörbar auf die Bühne gekommen sei, und erst drei Seiten später, wenn die Protagonistin wieder zur Ich-Form zurückkehrt, erkennt man das Raffinement des Schachzugs. Durch den Stimmwechsel schafft Berlin in ein und derselben Figur eine Distanz zwischen der gegenwärtig-erlebenden und der erinnernd-erzählenden Dimension – und markiert damit auf simple und zugleich vertrackte Weise die Position der Schriftstellerin.

In anderer Weise fächert sich die literarische Persona in «Lass mich dein Lächeln sehen» auf. Es ist die Geschichte jenes Paars, das auf den Dächern Nester sucht für eine Liebe, die nach geltenden Normen nicht sein darf: die Amour fou zwischen einem Halbwüchsigen und einer wesentlich älteren Frau, die dann auch prompt den Gesetzeshütern ins Gehege kommen. Maggie wird die Protagonistin von ihrem Geliebten Jesse genannt, Carlotta ist sie für Jon Cohen, den aufstrebenden Rechtsanwalt, den Jesse mit hinreissender Naivität zur Verteidigung seiner Herzensdame aufbietet. Hören wir, wie Cohen auf das Ansinnen reagiert: «Ich bin ein Verteidiger. Ich bin zynisch. Ich bin ein besitzorientierter Mensch, ein habgieriger Mann. Ich sagte ihm, ich würde den Fall kostenlos übernehmen.»

Das ist der Moment, in dem auch Cohen den Schritt in die Freiheit wagt; sie wird ihm mehr bringen als Geld, und sie wird ihn mehr kosten als nur ein üppiges Honorar. Wechselweise wird ihm und Maggie/Carlotta die Erzählstimme zugeteilt: Damit erscheinen Figuren und Szenerie in einer Art Doppelbelichtung, die den Hauptfiguren Tiefe gibt und zugleich das filmische, leicht irreale Element des für Berlin ungewöhnlich durchgeformten Plots betont.

Pure Essenz

Nur gerade siebenundsiebzig Short Storys hat Lucia Berlin zu Lebzeiten veröffentlicht, dreiundvierzig davon sind in «A Manual for Cleaning Women» versammelt. Dass das Œuvre der Schriftstellerin so schmal blieb, ist sicherlich den harschen Lebensumständen geschuldet; aber wohl auch der Tatsache, dass sie einen schlackenlosen Stil pflegte, sich streng im Zaum hielt, wo sie mit ihren Talenten hätte wuchern können. Was sie in ihren Texten fasst, ist pure Essenz, die Figuren und Szenerien sind so knapp wie sicher konturiert. Fast bedauert man manchmal diese Sparsamkeit angesichts des so klaren wie sinnenfreudigen Blicks, der in solchen Schilderungen zum Ausdruck kommt: Die Landschaft etwa, die sie zum Auftakt von «La Vie en Rose» mit ein paar Pinselstrichen hinwirft, weckt ein fast schmerzhaftes Verlangen, umgehend an jenen Ort versetzt zu werden – bevor er später im Text ein unheimliches Eigenleben entwickelt.

Was Lucia Berlin zu ihrer Arbeit notiert habe, berichtet Antje Rávic Strubel im Nachwort, sei karg oder unzugänglich. Doch besteht die Möglichkeit, zumindest einen ihrer literarischen Transformationsprozesse an der Realität zu messen. In der Story «Schritte» verfolgen die Insassen einer Entzugsklinik, in ihrem ungeheizten Habitat dicht an dicht gekuschelt, am Fernsehen den Titelkampf zwischen Sugar Ray Leonard und Wilfred Benitez, bei dem sich der sichtbar schwächere Benitez erst in der fünfzehnten Runde geschlagen gab. Den legendären Boxmatch kann man auf Youtube abrufen; Berlin kondensiert ihn auf wenig mehr als einer Seite. Und das unordentliche Gerangel, das ihn beendete, fasst sie in ein Bild des Besiegten, das Anmut hat und eine explizit sakrale Aura: eine Ikone, die einen Moment lang auf die vor dem Bildschirm versammelten Loser zurückstrahlt, auch ihnen Würde gibt.

Lucia Berlin: Was wirst du tun, wenn du gehst. Aus dem Amerikanischen von Antje Rávic Strubel. Arche-Verlag, Zürich 2017. 175 S., Fr. 27.90.