Unheimliches geschieht in den unheimlichen Bergen. Und Norbert Gstrein erzählt davon mit präziser Dramaturgie. (Bild: Gerhard Heidorn / laif)

Unheimliches geschieht in den unheimlichen Bergen. Und Norbert Gstrein erzählt davon mit präziser Dramaturgie. (Bild: Gerhard Heidorn / laif)

Die Sonne der Männlichkeit steht tief. Die alten Muster in der Ordnung der Geschlechter zeigen letzte Zuckungen

Zwei Selbstmorde und ein zweifelhafter Erzähler – Norbert Gstreins neuer Roman entwirft das Panorama einer grossen Einsamkeit. Er ist Thriller und Gesellschaftsstudie zugleich.

Paul Jandl
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In die Landschaft müsste man verschwinden können. Ein paar Schritte hinaus in den Schnee, in die Wüste. Dann über die Hügel und immer weiter, bis man nur noch ein Punkt ist. Wäre das das Ende einer Geschichte? Oder ihr Anfang? Norbert Gstreins neuer Roman «Als ich jung war» ist eine grosse Erzählung über das Verschwinden. Eine Parabel darüber, dass das, was wir zu sehen glauben, nicht mehr ist als ein Nebelstreifen vor unseren Augen.

In den Tiroler Bergen stürzt eine junge Braut noch in der Hochzeitsnacht in die Tiefe. In den Rocky Mountains sind plötzlich junge Frauen verschollen, und man hält einen Mann für den Täter, der ein seltsames Hobby pflegt. Er sammelt in einem Archiv Fälle verschwundener junger Frauen. Dann ist da noch die seltsame Vagabundin, die aus einer kleinen Stadt in Wyoming so schnell wieder abtaucht, wie sie aufgetaucht ist.

Nur einer kämpft gegen das Verschwinden an. Es ist der Erzähler mit seiner Kamera. Er fotografiert bei den Hochzeiten im Hotel seiner Eltern und über verschneite Bergkuppen hinweg. Seine Bilder sind voller Menschen, aber am liebsten hat er es menschenleer. Er ist dabei. Und er ist ein Aussenseiter, dem man erst einmal vertrauen muss. Ist es wahr, was er erzählt? «Als ich jung war, glaubte ich an fast alles, und später an fast gar nichts mehr, und irgendwann in dieser Zeit dürfte mir der Glaube, dürfte mir das Glauben abhandengekommen sein.»

Der Fotograf wird Skilehrer in Amerika

Abenteuerlich sind die Geschichten in Norbert Gstreins labyrinthisch klugem Roman jedenfalls. Als junger Mensch hat der Hotelierssohn Franz die Hochzeitspaare gerne vor einem Abgrund fotografiert, bis es das Unglück mit der abgestürzten Braut und eine heikle Situation mit einer Dreizehnjährigen gab. Versuche, sie zu küssen. Ein Übergriff. Franz geht nach Amerika, um sich dort als Skilehrer Geld zu verdienen.

Er lernt einen Raketenphysiker kennen, der ursprünglich aus Tschechien kommt und der ihm an Seltsamkeit nicht nachsteht. Gemeinsam durchwandert man die Schneehänge der Rocky Mountains. Schweigend kommt man der Welt abhanden, bis man wieder an sie erinnert wird. Am Professor hängen unerfreuliche private Dinge aus der Vergangenheit. Er verliert seinen Job und durch einen aufsehenerregend brutalen Selbstmord schliesslich auch sein Leben.

Was folgt, ist ein kleines Roadmovie als Epitaph. Auf der Ladefläche von einem Pick-up wird der Sarg des Professors quer durch Amerika chauffiert. Von einem kleinen knorrigen Bestatter mit deutschen Wurzeln, von dem man nur weiss, dass er als Sexualstraftäter verurteilt worden war.

In den bisherigen Romanen des Österreichers Norbert Gstrein ging es um politische und um literarische Wahrheiten. Um die Frage, wem eine Geschichte gehöre. «Als ich jung war» ist vielleicht der Roman unangenehmer Gefühlswahrheiten. Das Buch beginnt zu schillern, weil es in einer Sprache höchst kalkulierter Naivität erzählt ist. Es ist ein Suspense des Unkorrekten, bei dessen Rätseln man sich einerseits wie in Peter Greenaways Film «Der Kontrakt des Zeichners» fühlt, nur ohne Rüschenkragen.

Andererseits kann man das Setting durchaus auch vor den #MeToo-Debatten lesen. In den Höhenkämmen der Alpen und der Rocky Mountains zeigt der österreichische Schriftsteller, wie tief die Sonne der Männlichkeit steht. Seine Protagonisten kommen aus ehernen Rollenbildern. Oder sie sind von den Ansprüchen einer Gesellschaft überfordert, in der genau diese Rollenbilder erodieren.

Der Vater des Erzählers hat seine Frau noch im klassischen Herrschaftsstil kleingekriegt, der Erzähler selbst interessiert sich möglicherweise genauso für kleine Mädchen wie der tschechisch-amerikanische Professor. Auf dem Feld sexueller Regression und Aggression ist vieles möglich, und Gstrein hält in seinem Roman die Dinge so weit in der Schwebe, dass man am Ende gar nicht sagen kann, was man da gesehen hat.

Ist es ein Netz der Verbrechen, das über idyllischen Landschaften liegt, oder geht es hier um irrlichternde Unschuld? Der Professor hat seine Schwester bei einem Autounfall verloren, und für ihn ist die Affäre mit einer jungen Puerto-Ricanerin vielleicht nur eine Art romantischer Nachruf. Er gerät unter Verdacht, aber zum Verdacht gibt es keine Beweise.

Der Hotelierssohn Franz ist ein schüchterner Eigenbrötler, dessen sexuelle Erfahrungen in den Anfangsgründen, in den Abgründen des Beginns, steckengeblieben sind. Ungeschickt sind seine Versuche, dort herauszukommen. Lange nach der Affäre reist er der ehemals Dreizehnjährigen bei ihrer Konzerttournee hinterher. Es ist ein kurzer Blick. Und vielleicht ist es Stalking.

Die Unschuld ist längst verloren

Norbert Gstrein erzählt die Monologe einer verzweifelten und zweifelhaften Selbstauskunft in einer epischen Gemächlichkeit, die zum Raffinement des Romans gehört. Die Kapitel blenden Gegenwärtiges und Vergangenes gegeneinander und lassen die Berglandschaften diesseits und jenseits des Atlantiks zu einem grossen Ganzen werden. Zu einem Panorama der Einsamkeit, in das knisternd der Schnee fällt und in dem die Kojoten heulen.

Nur die mondhelle Wüste ist Zeuge, als der Erzähler mit der Vagabundin aus Wyoming eine Reifenpanne hat. Wie beide dann von zufällig vorbeikommenden Rangern gerettet wurden, wird uns nicht vorenthalten. Ebenso wenig, dass die junge Frau nach dem Ausflug nicht mehr aufgetaucht ist.

Gstrein schreibt in seinem Roman an einer schmalen Linie entlang, an der die Gewissheiten jederzeit kippen können. Es gibt eine Sehnsucht nach dem Nichts, die im schlimmsten Fall tödlich sein kann. Einen Fluchtpunkt, bei dem man nicht weiss, ob hier ein Täter flieht oder ob da einer seine Unschuld in die Unschuld der Landschaft retten will.

Am Ende von «Als ich jung war» bricht Franz auf, er verschwindet aus der Welt, die ihn kennt. Auch das Erzählen ist eine Flucht, zwinkert Norbert Gstreins Roman dem Leser noch zu. Denn es gibt Geschichten, «die man nur erzählt, um andere Geschichten nicht erzählen zu müssen».

Norbert Gstrein: Als ich jung war. Roman. Hanser-Verlag, München 2019. 352 S., Fr. 35.90.

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