Multis sind für die Dritte Welt mehr Segen als Fluch

Konzerne, die in Entwicklungsländern Geschäfte betreiben, sind suspekt. Man verdächtigt sie, die armen Regionen auszubeuten. Der Sozialwissenschafter Philipp Aerni hat ein Buch geschrieben, das dieses Zerrbild korrigiert.

Sergio Aiolfi
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Aerni ist nicht der Meinung, die Aktivitäten der multinationalen Unternehmen seien für ein Entwicklungsland in jedem Fall segensreich. (Bild: Ruhani Kaur / Bloomberg)

Aerni ist nicht der Meinung, die Aktivitäten der multinationalen Unternehmen seien für ein Entwicklungsland in jedem Fall segensreich. (Bild: Ruhani Kaur / Bloomberg)

Grossunternehmen sind unbeliebt. Unternehmerische Tätigkeit wird hierzulande zwar generell geschätzt, allerdings vor allem dann, wenn sie sich im kleinen oder mittleren Rahmen abspielt. Grösseren Konzernen begegnet man dagegen mit Misstrauen. Betreiben sie dann auch noch Geschäfte in Schwellen- und Entwicklungsländern, schlägt der Argwohn rasch in Ablehnung um.

Die sogenannte Konzernverantwortungsinitiative ist beredtes Beispiel dafür. Die Verfechter dieses Volksbegehrens haben sich zum Ziel gesetzt, dem angeblich menschenverachtenden und umweltzerstörerischen Gebaren von Schweizer Multis im südlichen Teil der Welt einen Riegel zu schieben. Mit ihrem Anliegen scheinen sie auf Anklang zu stossen. Ein ansehnlicher Teil der Schweizer Öffentlichkeit ist offenbar der Meinung, Multis trügen die Hauptverantwortung für Armut, Krankheit und Unterentwicklung in der Dritten Welt.

Obskures Weltbild

Philipp Aerni ist anderer Ansicht. Der Direktor des Zentrums für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit (CCRS) der Universität Zürich hat ein Buch publiziert, in dem er die Rolle der multinationalen Firmen einer genaueren Analyse unterzieht und zum Schluss kommt, dass ihre Präsenz in armen Ländern eher ein Segen als ein Fluch ist. Aus seiner Sicht sind die Multis nicht die ruchlosen Ausbeuter, wie die Kritiker gerne beteuern, sondern bieten den Schlüssel zu Fortschritt und wirtschaftlicher Prosperität.

(Bild: PD)

(Bild: PD)

Aerni setzt sich im Detail mit dem Weltbild auseinander, das der Denkweise der Konzerngegner zugrunde liegt, und meint darin den Einfluss des ungarisch-österreichischen Soziologen Karl Polanyi zu erkennen, der 1944 ein Werk mit dem Titel «The Great Transformation» veröffentlicht hat. In diesem Buch wird die Verselbständigung der Wirtschaft – oder die «Entbettung» – gegenüber der Gesellschaft als Grund für die Fehlentwicklung des Kapitalismus dargestellt, der letztlich im Faschismus endete.

In der Lesart Polanyis sind Gesellschaft und Marktwirtschaft in der Neuzeit zu einem Gegensatz geworden, der dadurch noch verschärft wird, dass die Wirtschaft das menschliche Dasein dominiert. Diesen Zustand gilt es zu korrigieren, und zwar mit einem sozialistischen Modell, das präkapitalistische Züge aufweist; nach Polanyi müsste der «Originalzustand» wiederhergestellt werden, der in der Zeit vor der Ausformung der «entbetteten» Marktwirtschaft existiert hatte.

Überträgt man dieses etwas absonderliche Denkmodell auf die Entwicklungspolitik, wird verständlich, warum Multis als Unheilsbringer zu sehen sind. Sie drängen den präindustriellen Kleinbauern und Handwerkern der Dritten Welt das «entbettete» globalisierte Marktmodell auf und zerstören so den «Originalzustand», in dem sich die lokalen Wirtschaften dieser Länder befinden. Die Konzernkritiker sehen sich ihrerseits als Bewahrer des Status quo, eines romantischen KMU-Idylls. Damit sorgen sie allerdings auch dafür, dass bestehende Strukturen zementiert werden; von «Entwicklung» und «Fortschritt» kann unter solchen Umständen keine Rede mehr sein.

Befreiende Wirkung

Ob das Denken und Handeln westlicher Entwicklungshelfer, die implizit oder explizit von antikapitalistischen Motiven geprägt sind, auch jenen entspricht, denen geholfen werden soll, ist eine andere Frage. In den Entwicklungsländern gibt es nach Aerni durchaus reformorientierte Unternehmer, denen daran gelegen ist, die antiquierten und bürokratischen Strukturen ihrer Wirtschaften und Staatsapparate aufzubrechen und ihre privaten Firmen voranzubringen. Dessen ungeachtet erheben westliche NGO den Anspruch, «Sprecher» für den Süden zu sein und zu wissen, was das Beste für die Betroffenen ist. Und das Beste scheint darin zu bestehen, lokale Wirtschaften vor dem disruptiven Einfluss globaler Multis zu bewahren.

Unterschlagen wird dabei die positive und befreiende Wirkung, welche die Multis auf die Wirtschaften armer Länder haben können. Das ist Aernis zentrale These. Er verweist etwa auf den Aufschwung in südostasiatischen Ländern und zeigt, wie die Investitionen westlicher Firmen dazu beigetragen haben, traditionelle Wirtschaften zu dynamisieren.

Die Multis haben Know-how transferiert, moderne Betriebs- und Managementmethoden eingeführt und mit diesen Neuerungen dafür gesorgt, dass weniger entwickelte Regionen Zugang zum Weltmarkt erhielten und aufblühten. Die von den westlichen Konzernen vorangetriebene Globalisierung hat Entscheidendes zur Armutsbekämpfung beigetragen und Prozesse in Gang gesetzt, welche die Wohlfahrt vermehrten.

Lokal verknüpft

Aerni ist nicht der Meinung, die Aktivitäten der multinationalen Unternehmen seien für ein Entwicklungsland in jedem Fall segensreich. Bemerkenswerterweise adaptiert er Karl Polanyis Begrifflichkeit und spricht davon, dass internationale Firmen in die jeweilige lokale Wirtschaft «eingebettet» sein müssen, um eine positive Wirkung zu erzielen.

Diesem Erfordernis entsprechen keineswegs alle Multis; es gibt auch solche, die eine Entwicklungsregion einzig als Zulieferantin sehen, keine Investitionen vor Ort tätigen und der lokalen Wirtschaft so nur ein Minimum an Wertschöpfung zugestehen. Was dagegen «embedded» im Sinne des Buchtitels bedeutet, zeigt Aerni anhand von Fallstudien, die von Forschern des CCRS gemacht worden sind. Hier gelangen Aktivitäten von Grossfirmen zur Darstellung, die von Konzernkritikern besonders gerne an den Pranger gestellt werden.

Eines der Beispiele betrifft Nestlé Philippines, eine Tochterfirma des Schweizer Unternehmens, die ein Aus-der-Region-für-die-Region-Konzept anwendet. Nescafé wird aus lokalen Rohstoffen gewonnen, in lokalen Fabriken von einer ortsansässigen Belegschaft, mit lokalem Management für den lokalen Markt hergestellt. Nestlé Philippines gilt im Land denn auch nicht als schweizerisches, sondern als einheimisches Unternehmen.

Ein weiteres Fallbeispiel befasst sich mit Syngenta, einem Agrokonzern, der ebenfalls oft angefeindet wird. Das Unternehmen betreibt Programme, die den Bauern in armen Weltgegenden erlauben, von der Subsistenzwirtschaft zum kommerziellen Landbau zu wechseln. Diese Programme umfassen unter anderem Lehrgänge, die eine nachhaltige Produktivitätssteigerung zum Ziel haben, sowie Instruktionen über globale Umweltstandards oder Arbeitsmarktregeln. «Embeddedness» bedeutet auch hier, dass eine lokale Bevölkerung von einem global tätigen Konzern profitieren kann – und umgekehrt. Weitere Fallstudien, die analoge Modelle beschreiben, betreffen Bata-Schuhe oder Chiquita-Bananen.

Gewinnstreben ist sozial

Grund für das weitverbreitete Misstrauen gegenüber Multis ist nicht zuletzt deren Gewinnorientierung. Private Firmen, die mit ihren Aktivitäten Geld verdienen, meint man, könnten nicht anders als ethische Regeln zu missachten. Auch hier schimmert das Gedankengut von Karl Polanyi durch, der marktwirtschaftliche und gesellschaftliche Prinzipien als unvereinbare Gegensätze sah. Mit den Fallstudien tritt Aerni den empirischen Gegenbeweis zu dieser These an; privatwirtschaftliche Unternehmen sind durchaus imstande, Vorteile für eine Gesellschaft zu schaffen – und sie tun dies oft in höherem Masse als manche nichtgewinnorientierte Entwicklungsorganisation.