366 Menschen starben, als ihr Flüchtlingsboot vor Lampedusa sank. Ein nigerianischer Schriftsteller hat mit Überlebenden gesprochen

Der Roman von Helon Habila zeigt Menschen in einer Zwischenwelt, entwurzelt und stets halb auf dem Sprung.

Uwe Stolzmann
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Die Überfahrt über das Mittelmeer birgt oft Gefahren und manchmal den Tod für die Flüchtlinge.

Die Überfahrt über das Mittelmeer birgt oft Gefahren und manchmal den Tod für die Flüchtlinge.

Chris Mcgrath / Getty
Helon Habila widmet sich in seinem neuen Buch dem Schicksal eines Bootes vor Lampedusa.

Helon Habila widmet sich in seinem neuen Buch dem Schicksal eines Bootes vor Lampedusa.

Jide Alakija

Acht Jahre mussten wir warten auf ein neues Werk von Helon Habila. «Öl auf Wasser»: Dieser Roman hat damals süchtig gemacht, ein Politthriller um das Erdöl im Nigerdelta, schnell, grausam, poetisch. Nun endlich ist das nächste Buch erschienen.

Helon Habila kam 1967 in Nigeria zur Welt, in einer Diktatur. An der Schule soll er aufgefallen sein durch seine Leidenschaft für Sprache und Literatur; Sprache wurde sein Mittel des Protests. Habila studierte Literatur, er unterrichtete, dann wurde er Journalist in Lagos. Mit 35 zog er nach England. Heute lebt er in Virginia und unterrichtet kreatives Schreiben an einer Universität in Washington (DC).

Trügerischer Start

Im Jahr 2000 erschien Habilas erster Kurzgeschichtenband, «Prison Stories». Es folgten drei Romane und eine stattliche Zahl an Preisen. Ab Juli 2013 war der Schriftsteller für zwölf Monate als Stipendiat in Berlin. «Dieses magische Jahr» nannte er die Zeit. Bald nach seiner Ankunft kenterte ein Boot mit Flüchtlingen vor Lampedusa; 366 Menschen ertranken. Habila sprach mit Überlebenden in Berlin – und hatte plötzlich die Idee für einen neuen Roman. «Als ich anfing, diese Geschichten zu sammeln, fühlte ich, wie mächtig sie waren», sagte der Autor in einem Interview.

«Travellers» heisst das Buch im Original, «Reisen» auf Deutsch. Der Anfang verwirrt: Ein Ich-Erzähler aus Nigeria, Intellektueller, wohnhaft in Nordamerika, fliegt zu seiner Frau nach Berlin. Gina kommt ebenfalls aus den USA, in Deutschland lebt die Malerin von einem Stipendium. Eben arbeitet sie an einem Projekt mit Migranten, es heisst – «Reisende». Wie bitte? Nigeria, USA, Deutschland, Stipendium? Beschreibt Habila sich selbst?

Auch die Sprache verwirrt: Das ist nicht die präzise Diktion aus «Öl auf Wasser», eine Sprache mit Sogkraft, reich an Metaphern. Hier wirkt der Ton eher salopp, redundant. Wer erwartet hat, Berlin neu, mit dem frischen Blick von aussen zu entdecken, wird erst einmal enttäuscht. Die Stadt bleibt reduziert auf blasse Begriffe: Görlitzer Bahnhof, Ku’damm und Wannsee. Nichts vom Osten der Stadt. Immerhin, ein Flüchtling darf schwärmen: «Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin.»

Sechs Bücher in einem

Auf Seite 77 ändert das Buch jäh den Charakter. Habila reisst das Ruder herum. Der Ich-Erzähler verschwindet. Nach Basel geht die Reise, nach Italien, nach London. Jetzt zeigt das Werk seine Struktur: Mosaik ist es, ein Ganzes aus Fragmenten. Sechs Kapitel, sechs «Bücher». Sechs Variationen über ein Thema, das seit Ilias und Odyssee zu den ewigen Topoi der Literatur gehört: Heimat und Wanderschaft.

Jedes «Buch» hat seine Protagonisten, Flüchtlinge aus Afrika, Strandgut an Europas Küsten. Mit den Geschichten dieser Migranten zeigt sich Habila wieder in Form. Da ist Mark aus Malawi. Mark, der eigentlich Mary heisst, ein androgynes Wesen, das in Berlin in einer besetzten Kirche lebt und später in einem Flüchtlingsheim; Filmemacher Mark, ohne Papiere, der gern Shakespeare zitiert, der mit Freunden gegen die Polizei rebelliert und eines Tages vom Dach des Heims in den Tod springt.

Da ist Manu, der in Libyen Chirurg war und nun Rausschmeisser ist, Türsteher vor einem Berliner Nachtklub namens «Sahara». Er hilft einsamen Damen in ihre teuren Autos, und manchmal soll er mitfahren; dieser Manu, der jeden Sonntag am Checkpoint Charlie steht, um auf Basma zu warten, seine Frau, die vor Italien vielleicht ertrunken ist.

Der Dichter James Kariku, noch eine fiktive Figur, stammt aus Sambia. Unter Diktator Kaunda sass er im Gefängnis, dann liess man ihn gehen. Ein halbes Leben hat er in England verbracht, «ein professioneller Exilant», so nennt ihn Habila. Er wird hofiert und gefeiert, «das Gewissen Afrikas» nennt man ihn. Irgendwann geht er nach Sambia zurück – und verliert seinen Lebenssinn. «Er war ein Dichter des Widerstands, nur damit kannte er sich aus», sagt seine Tochter. «Das Exil war sein Leben. Die Heimkehr war sein Tod.»

Die Killer von Boko Haram

Besonders hart klingt die Geschichte von Juma, einem Lehrer aus Nigeria. Juma überlebt die Killer von Boko Haram, den Marsch durch die Sahara und eine Schiffskatastrophe. Doch in England verlässt ihn das Glück. Asyl abgelehnt. Er soll deportiert werden, da geht er in den Hungerstreik. Er liest: «Hunger», von Knut Hamsun. Am Ende liegt Juma in einer Zelle und träumt von der Milch seiner Mutter. «Er schrumpft, entwickelt sich zurück. Seine Knochen werden zerbrechlich wie Zweige.» Eines Tages ist er fort, nur Zweige liegen auf dem Boden. Eine Putzfrau fegt sie zusammen und wirft sie in den Müll.

Helon Habila schildert die Migranten als Wesen einer Zwischenwelt, durchscheinend, stets halb auf dem Sprung. Er hat ihnen zugehört, ihren Traumata und ihren Träumen, er hat die Unsichtbaren für uns sichtbar gemacht. Und wenn wir genau hinschauen, wissen wir: Wir alle sind Reisende auf einem ungewissen Weg. Sie sind nur schon ein Stück weiter.

Helon Habila: Reisen. Aus dem Englischen von Susann Urban. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2020. 317 S., Fr. 36.90.

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