Scharlatane: Sie versprechen uns, was wir nicht einmal zu wünschen wagen. Dafür lassen wir uns gern betrügen

Scharlatane verschmelzen die Wahrheit mit Lügen zu einem Wahrheitsersatz. Fake-News, die so verführerisch sind, dass wir die Tatsachen gern vergessen.

Thomas Ribi
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Wir glauben Dinge, von denen wir genau wissen, dass sie nicht sein können. Weil wir sie glauben wollen: Hieronymus Boschs «Scharlatan».

Wir glauben Dinge, von denen wir genau wissen, dass sie nicht sein können. Weil wir sie glauben wollen: Hieronymus Boschs «Scharlatan».

PD

Er kam aus dem Nichts. In Zypern sei er geboren, sagten einige, doch das wusste niemand so genau. Er nannte sich Bragadino. Sein richtiger Name war das kaum. Da und dort kannte man ihn als Mamugnà. Wahrscheinlich war er auf einem Schiff nach Italien gekommen, mit Zyprioten, die nach der Schlacht von Famagusta vor den Türken flüchteten. Vielleicht war er selber auf der Flucht, aber wovor? Von irgendwoher wusste er Bescheid über Alchemie, überhaupt verstand er sich auf dies und das. Aber über ihn konnte niemand etwas Zuverlässiges sagen. 1589 tauchte Bragadino in Venedig auf. Und es war, als hätten alle auf ihn gewartet.

Nichts von Flucht und Armut. Bragadino zog in die Stadt ein wie ein Herr. Nein, wie ein Fürst. Er hielt sich Diener, gab prunkvolle Diners, sein Aufenthalt wurde zum Stadtgespräch. Der Mann hatte Geld, das stand fest. Viel Geld. Und er gab es reichlich aus. Wie einer, der sich nichts aus Geld macht, weil er mehr als genug davon hat. Das verschaffte ihm Gefolgschaft unter den Noblen Venedigs, den Kaufleuten, den Adeligen, den Politikern. Senatoren suchten seine Nähe, verkehrten mit ihm. Und auf einmal war es da, das Gerücht: Bragadino könne Gold machen.

Er selbst hatte das nie behauptet, doch als man ihn danach fragte, dementierte er nicht. Natürlich gab es Zweifler. Aber warum sollte man ihm nicht glauben, Bragadino? Einer wie er musste Gold machen können, das konnte gar nicht anders sein, und davon erwarteten sich die venezianischen Granden viel. Die Stadt war seit Jahrzehnten unter Druck. Die Verhältnisse hatten sich geändert. Amerika hatte seinen festen Platz auf der Weltkarte, der Seeweg nach Ostindien war bekannt, die Konkurrenz der Spanier, Portugiesen und Niederländer war gross. Die jungen Seefahrernationen handelten mit der ganzen Welt, Venedig nur mit dem Nahen Osten. Und dieser Handel brachte zusehends Verluste. Der politische Einfluss der Stadt schwand, die Währung verlor an Wert, Banken kamen in Zahlungsschwierigkeiten. Und manche wohlhabende Familie auch.

Der Herr lässt warten

Bragadino kam wie gerufen. Ein weitgereister Patrizier wusste von einem polnischen Gelehrten zu erzählen, der ihm prophezeit hatte, Venedig werde seine Herrschaft wiedererlangen, wenn sich ein Mann finde, der imstande sei, Gold zu machen. Das konnte nur Bragadino sein. Es galt, die Gelegenheit zu nutzen. Der Senat stimmte ab und entschied, ihn offiziell zu berufen. Niemand hatte je einen Beweis für die Künste des selbstsicheren Lebemanns gesehen. Ein Gutachten, das man bei einem Abgesandten in Auftrag gegeben hatte, wartete man gar nicht ab vor dem Entscheid. Man glaubte an Bragadino. Das war stärker als jeder Beweis.

Man bat den Gentiluomo, seine Kunst anzuwenden. Er zierte sich. Liess warten. Im Senat erhoben sich mahnende Stimmen: Bragadino könne wohl Gold machen, sagten sie, aber kaum in den Mengen, die man von ihm erwarte. Man wiederholte die Bitten, bis sich der Herr nicht mehr entziehen konnte. Um Zweifler zu überzeugen, erklärte er sich bereit, den Prozess des Goldmachens genauestens zu protokollieren. Die Beschreibung wurde mit Siegeln verschlossen und sorgsam verwahrt, genauso wie das Wundermittel, das für das grosse Werk benötigt wurde.

Dieses Mittel allein reichte allerdings nicht. Um Gold zu machen, da liess Bragadino keine Zweifel aufkommen, brauchte man – Gold. Da hatte man es, riefen die Warner, der Mann war doch nur ein Betrüger! Sie wurden zurechtgewiesen: Einen Mann mit derartigen Fähigkeiten müsse man sorgsam behandeln, mit Respekt und Zurückhaltung. Sonst drohe man sein Wohlwollen zu verspielen.

Wunder brauchen Zeit

Schliesslich begann Bragadino mit seinem Geschäft. Das mit dem wundertätigen Mittel behandelte Gold wurde in einem Schrank verschlossen. Dann hiess es: warten. In fünfundvierzig Monaten, kündigte Bragadino an, gehe die erste Multiplikation vor sich, in weiteren fünfundvierzig Monaten die zweite. Neunzig Monate also. Eine lange Zeit. Dafür werde das Gold um das Dreissigfache vermehrt, sagte Bragadino. Ein traumhafter Gewinn. Da war es kaum zu viel verlangt, siebeneinhalb Jahre Geduld zu haben.

Natürlich wurde nichts daraus. Nach und nach erhoben sich Zweifel, die Stimmung kippte gegen Bragadino. Dass der Betrug nicht zum Fiasko wurde, war einem einzigen Mann zu verdanken: Paolo Sarpi, einem Mönch, der im Auftrag Venedigs in diplomatischen Missionen unterwegs war. Er weckte die Stadtväter aus ihrem Traum vom unermesslichen Reichtum. Mit Spottgedichten, Gassenliedern und indem er auf einem Maskenfest junge Leute auftreten liess, die in Sketchs die Leichtgläubigkeit der Venezianer anprangerten. Bragadino verlor an Rückhalt und verliess Venedig bei Nacht und Nebel. Richtung München übrigens – auf Einladung von Herzog Wilhelm V., dessen Verschwendungssucht den Staatshaushalt an den Rand des Bankrotts gebracht hatte.

Bragadino war ein Scharlatan, wie er im Buch steht. Einer, bei dem sich die typischen Merkmale dieses Menschenschlags exemplarisch zeigen. Natürlich verfährt jeder Scharlatan ein bisschen anders. Aber in den Grundzügen sind ihre Kniffe durch die Jahrhunderte immer die gleichen. Und das Verrückte ist, dass sie meist gar keine Tricks brauchen. Sie haben uns, das genügt. Die wichtigsten Verbündeten der Scharlatane sind Menschen, die an sie glauben, sie gegen Einwände verteidigen – auch wenn die Vernunft gegen alles spricht, was sie ihnen weismachen.

Ein trojanisches Pferd

Vor mehr als achtzig Jahren hat Grete de Francesco das Standardwerk über «Die Macht des Charlatans» geschrieben und meisterhaft das widersprüchliche Verhältnis analysiert, das die grossen Virtuosen des Betrugs mit ihren Anhängern verbindet. 1937 erschien das Buch, und der Zeitpunkt ist kein Zufall. Die jüdische Journalistin und Schriftstellerin, 1893 als Margarethe Weissenstein in Wien geboren, hatte in Berlin die Deutsche Hochschule für Politik mit einer Arbeit über «Das Gesicht des faschistischen Italien» abgeschlossen, einen italienischen Ingenieur geheiratet und lebte unter zum Teil prekären Verhältnissen in Berlin, Wien, Salzburg und Paris. Sie erlebte, was es hiess, wenn einflussreiche Gaukler Macht über die Menge gewinnen.

Ende der dreissiger Jahre zog sie nach Mailand. Das Aufkommen des Faschismus und Nationalsozialismus verfolgte sie aus nächster Nähe, und ihr Buch lässt sich nicht nur als Entlarvung des hohlen, aber wirkungsmächtigen Gehabes der faschistischen Machthaber lesen – es ist auch so gemeint. Gerade deswegen allerdings verbat sich de Francesco jeden Bezug zur Gegenwart. «Ich vermied jede ‹geistreiche› Parallele», schrieb sie im Oktober 1937 an Thomas Mann: «Ich trat zurück, um der übermächtig sich erhebenden Anklage Raum zu geben.»

Ihr Buch, das in einem Basler Verlag erschien, verstand sie als «trojanisches Pferd», das sie nach Deutschland schleusen wollte, in der Hoffnung, damit einen Beitrag im Kampf gegen die Unrechtsregime zu leisten. Die Botschaft kam anscheinend an, auch bei denen, die de Francesco gemeint hatte. In deutschen Bibliotheken haben sich jedenfalls nur ganz wenige Exemplare des Buches erhalten, wie Volker Breidecker im Nachwort der schönen Neuausgabe schreibt, die in der Anderen Bibliothek erschienen ist. Die Vermutung liegt nahe, die in Deutschland kursierenden Exemplare der «Macht des Charlatans» seien von höherer Stelle eingezogen worden.

Ohne Wahrheit geht es nicht

Das wäre zumindest ein kleiner Triumph für eine Autorin, die dem Phänomen des Scharlatanismus wissenschaftlich klar, analytisch brillant und mit ironischer Distanz zu Leibe rückt. Am Beispiel von Goldmachern, Alchemisten, Quacksalbern, Wiedergängern, Magnetiseuren und Taschenspielern, an historischen Figuren wie Bragadino, Leonhard Thurneisser, Doktor Eisenbarth, dem Grafen von Saint-Germain, Cagliostro oder dem Helmstedter Geheimrat Gottfried Christoph Beireis entwirft Grete de Francesco eine Phänomenologie der menschlichen Täuschungskunst und arbeitet immer wieder dies heraus: Wir werden getäuscht, weil wir getäuscht werden wollen.

Anders herum: Getäuscht werden vor allem die, die sich gern täuschen lassen. Natürlich sind Scharlatane geschickte Vermarkter ihrer selbst, die uns weismachen, sie könnten den Lauf der Welt in jede beliebige Richtung lenken. Sie versprechen uns Dinge, die wir selber nicht einmal zu wünschen wagten. Sie bringen uns dazu, Dinge zu verteidigen, von denen wir genau wissen, dass sie nicht sein können. Weil wir sie wollen.

Scharlatane lügen schamlos. Aber ohne die Wahrheit kommen sie nicht aus. Sie verschmelzen sie mit Lügen zu einem – Wahrheitsersatz, wie es Grete de Francesco nennt. Etwas, das so verführerisch ist, so schön und bequem, dass wir bereit sind, darüber die Tatsachen zu vergessen. «Alternative facts» könnte man sagen. De Francesco hat den Begriff fast vorausgenommen, in einem brillanten Buch, das gestern geschrieben worden sein könnte. Sie starb im Frühling 1945, wahrscheinlich im Konzentrationslager Ravensbrück.

Grete di Francesco: Die Macht des Charlatans. Mit einem biografischen Essay von Volker Breidecker. Die Andere Bibliothek. Berlin 2021, 456 S. Fr. 33.90.