Ein Roadtrip ungleicher Brüder

„Johanns Bruder“ von Stephan Lohse stellt zugleich eine Reise in eine Kindheit voller Gewalt und in die NS-Zeit dar.

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johanns Bruder, das ist die Geschichte zweier Brüder, die sich nach 28 Jahren wiedersehen: Paul, der Ältere, hat in einem kleinen Dorf in Niedersachsen, in dem einst SS-Obersturmbannführer und Massenmörder Adolf Eichmann als Waldarbeiter „Otto Heninger“ untertauchte, einer ganzen Schar Hühner den Kopf abgeschlagen. Das bringt ihm einen Aufenthalt in der Psychiatrie ein, wo er beharrlich zu seinem Motiv schweigt.
Paul hat das Sprechen bereits in Kindertagen eingestellt, nachdem die Mutter die Familie verließ und die beiden Brüder mit dem religiös-fundamentalistischen Vater zurückblieben. Auch auf den zahllosen Zetteln, die er beschreibt und sammelt, sowie auf dem „Wunderblock“, bei dem man die Schrift wegwischen und erneuern kann, äußert er sich nicht zum Hühnermassaker.

Da er ansonsten nicht bedrohlich wirkt, wird er in die Obhut seines jüngeren Bruders Johann entlassen. Dieser hat nicht nur mit der Verarbeitung der damaligen Prügelattacken des Vaters zu kämpfen, bei denen Paul hingegen nur Zuschauer war, sondern auch ein Drogenproblem. Da ihn obendrein noch Liebeskummer plagt und ihn somit nichts nach Hause zieht, geht er bereitwillig auf Pauls Wunsch ein, sich gemeinsam auf eine außergewöhnliche Reise entlang des 52. Breitengrades zu begeben. Schritt für Schritt tauchen sie bei dem Trip immer tiefer in Kindheitserinnerungen ein und verlieren so langsam ihre Distanz zueinander.

Neben der berührenden Geschichte dieser geschwisterlichen Annäherung enthält der Roman einen zweiten Erzählstrang. Hier zeichnet der Autor Stephan Lohse mit Hilfe von Pauls Zetteln die „Laufbahn“ Eichmanns nach Kriegsende nach, die bekanntlich erst nach langen Jahren mit dessen Verurteilung und Hinrichtung in Jerusalem endete. Obwohl er nicht zur Tätergeneration gehört, ist Paul wie besessen von der Figur Eichmann. Ohne dass seine Gründe offenbar werden, scheint er sich verpflichtet zu fühlen, die Gräuel des NS-Regimes zu sühnen. Dazu dient auch diese Reise, die in Luftlinie den Weg eines kleinen Jungen nachzeichnet, der Bergen-Belsen überlebte und in die heimatlichen Niederlande zurückkehren konnte.

Woher diese Fixierung kommt, erfahren die Leser nicht. Und auch wenn Stephan Lohse durch eine in die Handlung eingewobene Begegnung mit einer völkischen Sekte aktuelle Bezüge schafft, bleiben die beiden Erzählstränge recht unverbunden nebeneinander stehen. So wirkt der Roman insgesamt eher episodenhaft und lässt viele Fragen unbeantwortet. Das lässt den Lesefluss mitunter etwas schwergängig werden, auch wenn es durchaus positiv ist, dass Lohse seinen Lesern Raum für eigene Interpretationen lässt. Insgesamt hätte da etwas weniger Mut zur Lücke gutgetan.

Dass dieser Roman über weite Strecken dennoch mitreißt, ist vor allem der feinen Beobachtungsgabe des Autors für Alltägliches geschuldet: Seine Landschaftsbeschreibungen, Darstellungen von Ortschaften und Personen zeichnen Lohse als lakonischen, scharfsinnigen Erzähler aus, der mit Liebe zum Detail, feiner Ironie und hintergründigem Humor aus einem Fremdenzimmer oder der Dorfkneipe einen spannenden Ort für  Entdeckungen macht. So ist Johanns Bruder vielleicht nicht ganz so fulminant wie Lohses wundervolles Debüt Ein fauler Gott, aber dennoch ausgesprochen lesenswert!

Titelbild

Stephan Lohse: Johanns Bruder. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
343 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429594

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