Was macht ein Menschenleben aus? – Ljudmila Ulitzkajas Erzählungen preisen die Vorzüge russischer Frauen und sind voll Empathie und Witz

Selbstbewusst wie sie selbst sind auch Ljudmila Ulitzkajas weibliche Figuren. Ihr neuer Erzählband handelt von Frauenschicksalen, teils in der späten Sowjetzeit, teils nach dem Kollaps der UdSSR. So oder so entfaltet sich in ihren Geschichten die verquere Fülle des Lebens.

Ilma Rakusa
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Das Leben trotz allem geniessen – russische Frauen in Moskau.

Das Leben trotz allem geniessen – russische Frauen in Moskau.

Yuri Kochetkov / EPA

Um es gleich vorwegzunehmen: Ljudmila Ulitzkaja gehört nicht nur zu den bedeutendsten, sondern auch zu den mutigsten russischen Schriftstellerinnen. In Protestschreiben und auf Demonstrationen hat sie Putins autokratischem Regime schon vor langem den Fehdehandschuh hingeworfen. Zurzeit lebt sie in Berlin. Ihr umfangreiches Werk aus Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Essays fokussiert auf zwischenmenschliche Beziehungen vor dem Hintergrund der Geschichte und der Gegenwart, indem es Alltagskonflikte wie moralische Dilemmata ungeschönt und nicht selten mit einer Prise Ironie zur Darstellung bringt.

Das Heft selbst in die Hand nehmen

Ulitzkajas jüngster Erzählungsband – er enthält Texte der letzten zwanzig Jahre – ist mehrheitlich Frauenschicksalen gewidmet und spielt teils in der späten Sowjetzeit, teils nach dem Zusammenbruch der UdSSR. Auffallend: Diese Frauen sind selbstbewusst, kämpferisch, risikofreudig, sie parieren nicht, sondern nehmen das Heft selbst in die Hand.

Etwa das lesbische Paar Sarifa und Mussja, die in den Niederlanden heiraten, womit sie sich den Zorn ihrer Verwandten ebenso zuziehen wie durch die Mesalliance zwischen einer Aserbaidschanerin und einer Armenierin. Doch als die tüchtige Juristin Sarifa frühzeitig einer Krebserkrankung erliegt, scheinen die starren Fronten aufzubrechen.

Alissa, ehemals erfolgreiche technische Zeichnerin, alleinstehend, vierundsechzig, möchte über ihr Leben bis zuletzt bestimmen können und sucht einen Arzt, der ihr die nötige Dosis Schlafmittel besorgt. Ein Arzt findet sich, doch kommt alles anders als gedacht. Zwischen den beiden entspinnt sich eine zarte Liebesbeziehung, die ihnen das glücklichste Jahr ihres Lebens beschert. Als der Arzt eines Morgens von der Strassenbahn überfahren wird, liegt das Barbiturat zuverlässig im Döschen, nur wird Alissa keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Ihre Aufgabe sieht sie jetzt darin, sich um das Enkelkind des verstorbenen Geliebten zu kümmern, denn die Mutter des Kleinen ist in der Psychiatrie.

Das Leben, so zeigt Ulitzkaja, schreibt seine eigenen Geschichten, da mag man planen, so viel man will.

An Willen freilich fehlt es Ljudmila Ulitzkajas Protagonistinnen nicht. Eine gefärbte Blondine «mit birnenförmiger Figur und vorgereckter Brust» beobachtet einen jungen Mann, der am andern Ende einer Parkbank eine ausländische Zeitung liest. Ein kurzes Gespräch, und der Mann entpuppt sich als Iraker, der in Moskau doktoriert. Die Frau wittert eine gute Partie für ihre Tochter Lilja, doch diese will von Heirat nichts wissen. Trotzdem kommt eine Liaison zustande, und mehr als das: ein Kind. Als der Iraker überstürzt verreist, herrscht Ratlosigkeit. Sie dauert zwei lange Jahre. Dann plötzlich eine Nachricht aus England: Der Mann ist in Bagdad verhaftet, dann eingesperrt und gefoltert worden, jetzt wartet er in London auf Lilja und das Kind. Ende gut, alles gut. Lilja kann endlich ihre Englischkenntnisse anwenden und wird britische Staatsbürgerin. Was will man mehr.

In solcher Verkürzung erscheinen Ulitzkajas Geschichten oft etwas märchenhaft, doch in Wirklichkeit spiegeln sie die seltsamen Wege des Schicksals, das seine eigene Regie führt.

Zürich, zum Beispiel

So auch in «Züü-rich», einer der längsten Erzählungen des Bandes. Wieder dient eine Parkbank in Moskau als Ort der Begegnung – diesmal zwischen Lidija und einem «braungebrannten, beleibten Mann», der «modische Lochmusterschuhe in unmännlichem Hellgrau» trägt. Wie sich herausstellt, ein Geschäftsmann aus der Schweiz. Lidija entwickelt Interesse, lädt den Herrn zu einem Abendessen in ihr bescheidenes Zimmer ein, ihre Kochkünste sind beeindruckend. Eines Tages dann folgt sie Martin nach Zürich, eröffnet mit ihm ein Restaurant, heiratet. Doch das Glück hält nicht lange: Martin erleidet einen Schlaganfall, Lidija übernimmt seine Pflege. Und schafft es gleichwohl, das «russische Restaurant» mit Angestellten weiterzuführen.

Was für eine Powerfrau, möchte man kommentieren. Tatsächlich lässt Ulitzkaja es sich nicht nehmen, immer wieder mit freundlichem Augenzwinkern auf die Vorzüge der russischen Frauen hinzuweisen, eine Tradition, die sich seit Nikolai Nekrassows Poem über die Gattinnen der nach Sibirien verbannten Dekabristen etabliert hat.

Unkritisch allerdings ist Ulitzkaja nicht. In der anrührenden Erzählung «Gesegnet sei, die . . .» lässt sie zwei Halbschwestern beim Durchgehen der Hinterlassenschaften ihrer berühmten Linguisten-Mutter streiten – über die Herzlosigkeit der Forscherin, die sie in die Obhut der Grossmutter gegeben hat, um frei für ihren Beruf zu sein. Familie? Ein Trümmerhaufen. Erst ein genauerer Blick bringt das Gedankengebäude der Schwestern ins Wanken und führt zu ihrer Versöhnung.

Ljudmila Ulitzkaja ist eine glänzende Menschenkennerin und eine fabelhafte Erzählerin, die über Details in medias res geht. Dass sie gerne auch einmal realistisches Gelände verlässt, zeigt ihr Zyklus «Sechs mal sieben Miniaturen», der auf Russisch noch nicht veröffentlicht wurde. Es geht darin um Weltuntergänge, um seltsame Tode, Geburten und Krankheiten, um Vorgänge aus der Schatzkiste des Phantastischen, mit Lakonie und schwarzem Humor präsentiert. Verschiedentlich fühlt man sich an die Miniaturen des Absurdisten Daniil Charms erinnert.

Im Übrigen setzen auch diese Kurztexte ebenjene Detailkenntnis voraus, mit der Ulitzkaja immer schon brilliert hat: ob sie eine Moskauer Kommunalwohnung, eine Entbindungsklinik oder ein Frauengefängnis beschreibt oder ein Psychogramm von Vertreterinnen dreier verfeindeter Generationen liefert. Sie kennt ihre Pappenheimer, den sowjetischen und postsowjetischen Menschenschlag, aber auch das Allzumenschliche, das nationalen Zuschreibungen trotzt. Anders gesagt: Sie feiert das Leben in seinen trivialen und aussergewöhnlichen, in seinen wunderbaren und beängstigenden Facetten. Und man folgt ihr fasziniert.

Ljudmila Ulitzkaja: Alissa kauft ihren Tod. Erzählungen. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Verlag Carl Hanser, München 2022. 301 S., Fr. 38.90.

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