Berliner Rede zur Poesie 2022

Die Zwischensprache

55:34 Minuten
Eine Frau im schwarzen Kleid und mit grauen Haaren steht auf einer Bühne und liest aus einer überdimensionalen Schriftrolle vor, die sie in ihren Händen hält.
Berliner Rede zur Poesie 2022 mit Michèle Métail. © Haus für Poesie / Natalia Reich
Von Michèle Métail · 26.06.2022
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Die Berliner Rede zur Poesie ist einer der Höhepunkte des Poesiefestivals. Dieses Jahr hielt sie Michèle Métail. Die Französin lässt sich durch ihr eigenes Werk treiben.
Am Anfang waren auch für Michèle Metail die Worte.
„Im Jahre 1956 erschien zum ersten Mal ein Wörterbuch für Kinder. Ich bekam es zum Geburtstag geschenkt. Es enthielt 1065 Wörter mit Beispielen und dazu 887 Farbzeichnungen. Jahrelang galt es als das schönste Buch meiner Kindheitsbibliothek, vor allem, weil es nicht von Anfang bis Ende zu lesen war. Durch das Blättern, durch die Gedankenverbindungen, beim Springen von einem Wort zum anderen, war es möglich, sich neue Geschichten zu erzählen. Dort lagen sie im Keim – mit ihren alphabetisch geordneten Figuren.“
Die Berliner Rede auf dem vom Haus für Poesie veranstalteten Poesiefestival ist wortreicher als das Kinderwörterbuch, aber Bilder hat sie zumindest in der gedruckten Fassung (Wallstein Verlag, 13,90 Euro) auch: Sie stehen vor jedem der 17 Kapitel, in denen Metail – 1950 in Paris geboren – sich durch Stationen des eigenen Werkes treiben lässt.

Sprachflanerie

Nicht zufällig heißt das erste Kapitel ihrer Rede „Ortstafel Berlin oder durch die Straßen schlendern“. Schlendern will Métail wie der Flâneur, ein französisches Wort, das an der Spree Karriere machte, dabei jedoch „seine Kopfbedeckung, seinen Zirkumflex“ verlor: „Wörter wandern, verwandeln sich. Sie überschreiben alle Grenzen. Sprache ist Bewegung.“

Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän

Métail beschreibt, wie sie in Wien Deutsch lernte und zwar Schleier (le crêpe) und Pfannkuchen (la crêpe) verwechselte, jedoch ein für allemal die einfachste Form der Wortbildung, die Verbindung von mehreren zu einem, erlernte: dank des Kompositums Donaudampfschifffahrtsgesellschaft, das sie zum Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän und auch zum unendlichen Gedicht führte: „Dessen Quellsprache war deutsch, der Satzbau französisch, so entstand meine Zwischensprache. Grenzenlos, wie die Donau, die durch mehrere Sprachgebiete fließt.“

Gigantische Gigantextes

Michèle Métail lässt sich weiter treiben: zu den Gedichten, die sie nicht drucken ließ, nur vortrug in Performances als „Wurf des Wortes in den Raum”, zu den topografischen Gedichten in China und anderswo sowie den gewaltigen „Gigantextes“; zur Mitgliedschaft in der experimentellen Gruppe Oulipo als eine von nur fünf Frauen, zu ihrer Prägung durch die experimentelle Musik und den Beziehungen zwischen Wort und Bild, Garten und Landschaft.
Nach der anfänglich starken Betonung des Spielerisch-formalen wächst bei Métail das Interesse an den Bedeutungen der Worte – und an der Verlangsamung des Leseprozesses, an anderen Darbietungsformen des Textes als der im Buch. Die Rede las Métail von einer Holzrolle ab, was manchmal zu hören ist.
„Das englische Wort performance kommt aus dem Altfranzösischen parformer, erfüllen, vervollkommnen. Parformance, so wurden öfters meine Lesungen bezeichnet. Parformer le texte, den Text erfüllen, in allen seinen Dimensionen, semantisch, akustisch, visuell, was auf den griechischen Wortstamm von Poesie zurückführt, poiein: machen, erzeugen. Die Rolle gibt dem Text ein Volumen, das seiner Lesedauer entspricht. Am Ende einer Lesung stellt das in Falten auf der Bühne liegende Papier die letzte Spur einer Aktualisierung des Textes durch die Stimme dar.“
(pla)

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