Das bedrängte Leben

Matthias Bormuths Studien zum suizidalen Denken unter dem Titel „Ambivalenz der Freiheit“ loten Potenziale und Risiken der Handlungsfreiheit aus und spannen dazu einen weiten Bogen von der Antike bis heute

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn das Nachdenken über den Suizid und damit verbundene Auslegungen der Freiheit zu den zeitenthobenen Menschheitsfragen gehören, hat die gegenwärtige Auseinandersetzung um den assistierten Suizid (gerade auch in Form der künstlerischen Inszenierung von Ferdinand von Schirach) diese „alte“ Frage nochmal neu in den Fokus gerückt (inklusive aller juristischen Implikationen). Die oftmals sehr holzschnittartige Gegenüberstellung von religiösen Positionen einerseits (Stichwort: „Lebensschutz“) und die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des Einzelnen betonenden liberalen Grundpositionen wird in Bormuths Studien in erfrischender Weise ausgehebelt. Seine gesammelten Studien zum suizidalen Denken in der Philosophiegeschichte ermöglichen so vielmehr einen differenzierten, historisch enorm informierten und anregenden Blick auf die Fluchtlinien jener Gedankengebäude, die in gewisser Weise immer vor der Frage stehen, wie die Freiheitsspielräume des Menschen in Fragen der existenziellen Bedrängnis zu definieren, zu bewerten und gegebenenfalls zu verteidigen sind.

Bormuth integriert gewissermaßen normative Gesichtspunkte existenzieller Philosophie und subjektive Betrachtungsdimensionen des Psychiatrischen und des Literarischen, um auf sehr produktive Art und Weise suizidales Denken zu schärfen. Klar umrissen wird dabei die normative Position der christlichen Religion, die Eckpfeiler eines guten Lebens definiert und im Suizid einen deutlichen Angriff des Einzelnen in Gottes Schöpfung sieht: Gerade Augustinus und Thomas von Aquin folgen der Idee, dass Gott für den Menschen einen bestimmten Lebensentwurf vorgesehen hat, sodass etwa das eigene erlebte Leid produktiv genutzt werden kann und soll, um daraus gestärkt hervorzugehen. Auch das Gemeinsame im Zusammenleben der Gläubigen erweist sich als eklatant angegriffen, wenn sich einzelne Mitglieder für den Suizid entscheiden.

Im Zuge der fortschreitenden Philosophiegeschichte lässt sich in Abgrenzung zu religiösen Positionen dann so etwas wie eine schrittweise Aufweichung der ehemals stark normativen und moralisierenden Haltungen erkennen: Orientiert an der Frage, wie stark der Leidensdruck des Einzelnen und seine jeweilige Lebenssituation ist, verweisen sowohl Hume als auch Kant auf den besonderen Stellenwert menschlicher Vernunft und Urteilskraft; als „Zweck an sich“ ist der Mensch so viel stärker, als es religiöse Positionen dazu vorsehen, an eine Form der Verpflichtung gegenüber sich selbst gebunden. Die Entscheidungsfähigkeit und das eigene Autonomiebedürfnis werden hier klar präferiert gegenüber möglichen Verpflichtungen in Richtung Gottes, der Gemeinschaft oder anderer. Ähnlich argumentiert auch Schopenhauer, der den Menschen konzeptuell herauslöst aus seiner vermeintlichen sozialen Verpflichtung und ihn vielmehr als Individuum adressiert, das einer starken Form der Willensfreiheit folgt.

Mit der langsamen Distanzierung von und Differenzierung in Abgrenzung zu einem stark moralischen Zugang zum suizidalen Denken erfährt die Idee der Freiheit gerade im soziologischen und psychiatrischen Diskurs eine bedeutsame Aufwertung und Präzisierung: Der Suizid wird insgesamt als dezidiert modernes Krisenphänomen wahrgenommen – die Krise bildet gewissermaßen die Grunderfahrung der modernen Gesellschaft (gerade Nietzsche wird zum Wegbereiter der Idee einer krisenhaften Moderne). Durkheim knüpft zwar eher wieder an die Idee der sozialen Prägung, Einbettung und Selbstdefinition des Menschen an, sieht in diversen Rollenerwartungen, Veränderungsanforderungen und Prägungen durch die Gesellschaft aber die Gefahr, dass der Suizid als Fluchtmöglichkeit begriffen wird, sich dieser möglicherweise subjektiv empfundenen Krisensituation zu entziehen. Zugleich zeigt der Soziologe aber auf, inwieweit es gerade die soziale Gemeinschaft ist, die mit ihren vielfältigen Inklusions- und Bindungsmechanismen zugleich eine Perspektive bietet, sich gerade nicht den Gedanken an den eigenen Suizid zu ergeben. Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers folgt diesen Ideen im Wesentlichen, betont aber, dass die Freiheit, sich den sozialen Anforderungen und Normativitäten zu entziehen (auch und gerade in Form des Suizids) nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, bildet sie doch ein anthropologisches Grundmotiv. Das gesellschaftliche Urteil wird hier als enorm wirkmächtige Kraft verstanden, die den Grundimpuls des Menschen nach Autonomie und Freiheit wesentlich angreift und zu Denkformen des Suizidalen führen kann (auch im Sinne des „unlösbaren Konflikts zwischen dem selbstreflexiven Individuum und der konventionellen Gesellschaft“).

Anregend, von besonderer Tiefe und Weitsicht sowie differenziert werden Bormuths Ausführungen da, wo sein Text literarisch-künstlerische Formen der Erkenntnis miteinbezieht, die sich im Wesentlichen als Auseinandersetzungen mit Holocaust und Shoah verstehen lassen. Hier werden die theoretischen Reflexionen der Philosophie kongenial angereichert und verschränkt mit den subjektiven Dimensionen persönlicher Erfahrung. Gerade das Werk Ingeborg Bachmanns untermauert so, wie das Unsagbare in der Kunst einen Ausdruck erfährt und die „Suche nach einer lebbaren Utopie“ in eine spezifische Form überführt werden kann. Privates Leid und historischer Kontext können in der Kunst miteinander verbunden werden und ermöglichen auf diese Weise ein Aufgehen des Ich in der Welt, eine Verortung innerhalb eines größeren Rahmens, letztlich die Schaffung von Kohärenz und Ordnung. Auch und gerade mit Blick auf suizidales Denken erfährt die Kunst, das künstlerische Handeln eine besondere Aufwertung und wird verstehbar als freiheitlicher Spielraum der Auseinandersetzung um die Möglichkeiten, mit den Bedrängnissen des eigenen Lebens konstruktiv umzugehen und darüber hinaus auch einen „Gedächtnisraum“ zu schaffen, der sich der eigenen und der kollektiven Vergangenheit(en) annimmt.

Als zentrale Grenz- und Überwältigungserfahrung fungiert vor diesem Hintergrund die Erfahrung von Auschwitz, im Zuge derer dem Schriftsteller Jean Améry eine paradigmatische Bedeutung zukommt. In existenzieller Weise von mehreren Aufenthalten in Vernichtungslagern geprägt, als Schriftsteller (nach eigenem Empfinden) gescheitert und zudem gebeutelt von gesundheitlichen und Beziehungsproblemen wird sein Schreiben zum existenziellen Ringen um das Darstellen des Unsagbaren. Wie das objektiv Traumatische subjektiv angeeignet werden kann, versuchte Améry gerade in Form der beiden Texte Überwältigungsversuche eines Überwältigten und Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod darzustellen: Die „Grenzsituation der Lagerhaft“ ließ Améry einen starken Fokus auf den „Mut zur moralischen Freiheit“ in Fragen des Suizids legen. In Frontstellung gegenüber Formen der Pathologisierung zeige sich im Suizid die besondere Entschlossenheit des Einzelnen, den Lebenstrieb zu überwinden, sich selbst als autonomes und von gesellschaftlicher Fremdbestimmung freies Wesen zu begreifen, das der Unbedingtheit und allen Forderungen nach einem Weiterleben in Anbetracht aller existenziellen Notlagen widerspricht. Im Aufgriff des Passionsmotivs (auch in einem christlichen Verständnis) wird der Mensch im Leid dadurch handlungsfähig, dass er dem Leben entsagt und damit den eigenen passiven Status des Opferdaseins überwindet. Die kritische Rezeption dieses Denkens richtete sich vor allem darauf, dass Amérys besonderer Erfahrungshorizont nur schwer verallgemeinerbar sei in Richtung einer philosophischen Grundposition. Das Existenzielle seiner Situation ließe zudem einen zu starken Heroismus und Dogmatismus anklingen, der die freie Selbstbestimmung derart absolut setze, dass jegliche Formen der Abhängigkeit verschleiert würden und es ein differenziertes Bild auch auf mögliche getrübte Varianten der Urteilsbildung nicht mehr gebe.

Insgesamt bietet Matthias Bormuth in seinen Studien zum suizidalen Denken einen wahren Fundus an philosophiegeschichtlichen, psychiatrischen und künstlerischen Zugängen, der eine immense Orientierungshilfe und Fundierung mit Blick auf gegenwärtige Debatten zum Thema darstellt. Trotz der zuweilen starken Detailversessenheit seiner Analysen besitzt der Autor eine besondere Fähigkeit zur überblickshaften und klar gegliederten Darstellung seiner Forschungsergebnisse, sodass der Text über weite Strecken auch für ein weniger eingearbeitetes Publikum interessant und anregend sein dürfte. Einzig die manchmal auffallend holprige Anbindung der Kapitel und Texte (sicher als Effekt der Sammlung von Einzelstudien) sowie die unnötig vielen formalen Fehler im Text trüben den Gesamtleseeindruck etwas, lenken aber keinesfalls vom Befund ab, dass sich Bormuth mit seinen Studien in besonderer Weise um ein vertieftes kulturwissenschaftliches Verständnis des Suizids als Form des Weltzugangs verdient gemacht hat.

Titelbild

Matthias Bormuth: Ambivalenz der Freiheit. Erweiterte Studien zum suizidalen Denken.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
508 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835350915

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