Efeu - Die Kulturrundschau

Unverschämter Glamour

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30.09.2022. Die SZ besucht den Jazzmusiker Abdullah Ibrahim im Chiemgau, das von der Kalahari weniger weit entfernt ist als man glaubt. monopol ersetzt in Prag den eisernen Vorhang im Kopf durch einen Vorhang aus Tonbändern Gregor Hildebrandts. Im Interview mit der Welt verbucht der Autor und dekonstruktive Feminist Thomas Meinecke die Warnungen einer englischen Universität vor seinem Roman "Tomboy" als akademischen Betriebsunfall.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.09.2022 finden Sie hier

Musik

Für die SZ hat Andrian Kreye den Jazzer Abdullah Ibrahim besucht, der aus Kapstadt nach New York ging, zur Hochphase des Modern Jazz auf der ganzen Welt am laufenden Meter Platten veröffentlichte und nun seit geraumer Zeit im Chiemgau lebt. Bei Ibrahim "ist eine Wärme und eine Zuversicht in den Akkordfolgen, die einzigartig ist." Da öffne sich "ein ganzer Kosmos der Bezüge und Erinnerungen. An seinen Vater, der aus dem Bergvolk der Besotho stammte, und seine Mutter, die zum Volk der San aus der Kalahari gehörte. ... In der Savanne hat er schon als Kind im Dorf seiner Großeltern viel über den Umgang mit Rhythmus gelernt und wie man ein ganzes Kollektiv in den Fluss des Rhythmus bringt. 'Die Tänzer geben den Beat vor', sagt er." Aber warum nun schlägt er Wurzeln im Chiemgau? "'Ich bin mit den Bergen aufgewachsen. Und die Berge hier sind jetzt meine Heimat', sagt er. Und auch das Gasthaus Hirzinger erinnert ihn an seine Kindheit. Die Volksmusikgruppen, die da auftreten, die Jungen, die so zu ihren Traditionen, zu ihren Wurzeln zurückfinden. Das sei gar nicht so anders in der Kalahari, wo er das selbst als Kind erlebte."

Ibrahims "Blue Bolero" für diesen Freitag morgen:



Der überraschend gestorbene Rapper Coolio ist vor allem für sein Stück "Gangsta's Paradise" bekannt, schreibt Dennis Sand in der Welt: "Auf der einen Seite machte er Coolio schlagartig nicht nur reich, sondern auch weltweit bekannt. Der Song galt als eine Blaupause für den 1990er-Jahre Gangsta-Rap, eine düster-melancholische Produktion, deren Stevie-Wonder-Referenz mit einer soulig-poppigen Eingängigkeit den Massenmarkt stürmte." Der Song "überstrahlte alles. Das war HipHop, der so groß war, dass er weit über den HipHop hinausreichte. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet ein Song Coolios größter Hit wurde, der wohl am wenigsten stellvertretend für sein musikalisches Gesamtwerk stand. ... Die Alben, die er seit Ende der 1990er-Jahre veröffentlichte, verschwanden allesamt unter dem Radar öffentlicher Wahrnehmung."

"Coolio ist der falsche Künstlername für diesen Rapper. Der richtige: Melanchoolio", meint Jürgen Schmieder in der SZ. "Und natürlich wurde der Song "missverstanden. Vor allem hier, in Deutschland. In der Dorfdisco grölten die Halbstarken, dass auch sie quasi ihr ganzes Leben im Paradies der Outlaws und Verstoßenen gelebt hätten, verglichen sich also mit den Menschen aus, zum Beispiel, South Central Los Angeles. Dann gingen sie in sündteuren Sneakers durchs behütete Bayern nach Hause." Sehr traurig wird Daniel Schieferdecker auf ZeitOnline bei dem Gedanken daran, dass Coolio in den letzten Jahren durch deutsche Comeback-Shows tingeln musste.

Weiteres: Vorwürfe, dass der Popstar Harry Styles für einen wahrscheinlich doch eher heterosexuellen Mann viel zu stil- und geschmackvoll gekleidet sei und damit einen schwulen Lebensstil aufgreife, zeigen Birgit Schmid von der NZZ, "wie dogmatisch der Gender-Diskurs geworden ist". Konstantin Nowotny wirft für den Freitag einen Blick darauf, wie große Konzertveranstaltungen umweltverträglicher werden können. Ronald Pohl erinnert im Standard an Marc Bolan, der vor 75 Jahren geboren wurde. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Dorothea Winter über Edwin Rosens 80s-Revival-Song "leichter/kälter":



Besprochen werden Björks neues Album "Fossore" ("Es ist kein schönes Popalbum geworden, dafür ein großes Stück Freiheit", schreibt Laura Ewert auf ZeitOnline, mehr zu dem Album bereits hier), eine Blumenfeld-Aufnahme des Pianisten Mark Viner (online nachgereicht von der FAZ), Jens Friebes Album "Wir sind schön" (da "ist musikalisch und lyrisch eine Menge los", schreibt Kristof Schreuf in der taz) und Shygirls Album "Nymph" ("Wenn das hier der neue Mainstream-Pop ist, stehen Charts und Formatradio aufregende Zeiten bevor", prophezeit Nadine Schildhauer auf ZeitOnline).

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Bühne

Die Oper Frankfurt wurde von der Zeitschrift Opernwelt zur Oper des Jahres gekürt, meldet der Tagesspiegel. Besprochen werden Shakespeares "Romeo und Julia" als Musical am Theater des Westens in Berlin (Tsp) und "Ein Sommernachtstraum" in Wiesbaden (FR).
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Film

Verehrung für Ikonen der deutsch-türkischen Musik: "Liebe, D-Mark und Tod"

Perlentaucherin Thekla Dannenberg kann sich den Lobeshymnen auf Cem Kayas Kino-Doku "Liebe, D-Mark und Tod" über die Geschichte der türkischen Popmusik in Deutschland nur anschließen: "Knallig kolorierte Sequenzen wechseln sich in rasantem Tempo ab mit klarem Schwarzweiß und traurigem Berliner Grau. Bei aller Verehrung, die Kaya den Ikonen der deutsch-türkischen Musik aus den siebziger, achtziger und neunziger Jahren entgegenbringt, lässt er nur selten gute Laune aufkommen: Die Geschichte der türkischen Musik in Deutschland ist auch eine Geschichte der bereuten Migration, des Exils und des Abgelehntwerdens." Auch Georg Seeßlen ist in der Zeit hingerissen von dieser Nachhilfestunde in Sachen deutscher Gesellschaftsgeschichte: Zu erleben ist eine "verrückte alte Zeit, in der es unverschämten Glamour inmitten von schmutzigem und eintönigem Alltag gab, unverschämte Freiheit inmitten von Unterdrückung und Bedrohung und, ja, auch unverschämten Reichtum inmitten von Mangel und Armut".

Außerdem: Valerie Dirk wirft für den Standard einen Blick darauf, wie österreichische Kinos der energieknappen kalten Jahreszeit entgegen sehen. Wolfram Schütte schreibt auf Artechock einen Nachruf auf Jean-Luc Godard. In seiner Artechock-Kolumne schwärmt Rüdiger Suchsland von der französischen Filmkultur, die er bei einem Abstechner nach Paris erleben konnte. Außerdem meldet Artechock den überraschenden Tod seines Filmkritikers Gregor Torinus.

Besprochen werden Natalia Sinelnikovas Sozialsatire "Wir könnten genauso gut tot sein" (eine "hoffnungsvolle neue Stimme im deutschen Kino", staunt Andreas Busche im Tsp), Andrew Dominiks auf Netflix gezeigtes Biopic "Blonde" über Marilyn Monroe (zwar kein Faktenfilm, schreibt Robert Wagner im Perlentaucher, aber "die Wahrheit einer Frau, die vergebens nach Halt sucht, erscheint umso nachdrücklicher und ergreifender"), Carolin Schmitz' "Mutter" mit Anke Engelke (FAZ), Rosa von Praunheims semidokumentarisches Biopic über Rex Gildo (Tsp), Edward Bergers "Im Westen nichts Neues" (Artechock), Michael "Bully" Herbigs Relotius-Verfilmung "Tausend Zeilen" (FR, Artechock), Laurent Nègres beim Zurich Film Festival gezeigter "A Forgotten Man", der auf Thomas Hürlimanns Stück "Der Gesandte" basiert (NZZ) und die "Sisi"-Serie von Netflix (Welt, Presse).
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Literatur

Vorsicht! "Schwierige Materie" mit "provokanten Themen" warnt die Warwick University 
Mladen Gladic spricht in der Welt ausführlich mit Thomas Meinecke, dessen von der Gendertheorie der Neunziger beeinflusster Roman "Tomboy" an einer britischen Universität als heikle Ware eingestuft wird, weil einige Szenen die jungen Leute dann doch verstören könnten. "Sehr ambivalent" findet der Autor das alles: "Ich bin durch den dekonstruktiven Feminismus geprägt und begreife mich als jemanden, der das mithergestellt hat, diese Empfindlichkeit. Und in gewissem Sinne jetzt damit leben muss, dass sie teilweise Formen annimmt, die ich wiederum nicht sinnvoll finde. Ich denke aber, wir befinden uns in einem fortschrittlichen Prozess, aber dazu gehört jetzt eben leider ein paar Faux-pas oder Unfälle auch im akademischen Betrieb."

Für 54books schreibt Gerrit Wustman einen Nachruf auf den vor kurzem verstorbenen Schriftsteller Peter Straub, der meist auf seine (allerdings wenigen) Horrorromane reduziert wird, für Wustman aber "zu den großen Schwergewichten der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts zählte und der doch in Deutschland heute fast unbekannt ist".

Weiteres: Die Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga ist in Simbabwe zu sechs Monaten auf Bewährung und einer (allerdings zumindest für hiesige Verhältnisse sehr kleinen) Geldstrafe verurteilt worden, meldet Andreas Platthaus in der FAZ. Außerdem erinnert Platthaus in der FAZ an das Verhältnis zwischen Thomas Mann und Aldous Huxley, deren herzlicher Umgang zerbrach, als sich Mann über Huxleys Drogenexperimente ärgerte.

Besprochen werden unter anderem Thomas Melles "Das leichte Leben" (Standard), Brianna Wiests Ratgeber "101 Essays, die dein Leben verändern werden" (SZ) und Jonathan Moores Krimi "Poison Artist" (Dlf Kultur).
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Kunst

Gregor Hildebrandt, "A Blink of an Eye and the Years are Behind Us" in der Kunsthalle Praha. Ausstellungsansicht. Foto © Vojtěch Veškrna


Auf nach Prag, in die neue Kunsthalle Praha, eine vom Architekten Jan Schindler umgebaute  alte Transformatorenstation, die vor sieben Monaten eröffnet wurde und derzeit den Berliner Künstler Gregor Hildebrandt ausstellt, empfiehlt Laura Ewert in monopol: "Hier wurde kein Alien abgesetzt, sondern man hat sich am Historischen entlang gehangelt. Entstanden ist so ein industrielles Design, das nie zu schwer oder museal wirkt und somit der Kunst genügend Raum lässt. Auch durch das Passepartout-Prinzip, das entwickelt wurde, um in einem Layering verschiedene Hängevarianten an den Wänden zu ermöglichen. Was im Falle von Gregor Hildebrandt äußerst gut gelingt. Wir sehen zum Beispiel sehr große, mit VHS-Tape bespannte Wände, deren feinen und fein gehangenen Bahnen von fast allen Besuchern angepustet werden, weil man gar nicht anders kann, als die Spiegelungen darin auch selbst zu beeinflussen. Davor Skulpturen, die an eckig geschnittene Bäume erinnern, mit Jahresringen aus Tapeband, ein Parkett aus Schachbrettern, ein Parkett aus Kassetten, und irgendwann wird man durch eine sehr gelungene Raumführung aus gebogenen Schallplatten an eine Wand geleitet, vor der man Platz nehmen kann, vor einem Gemälde aus Tapedeck-Rücken, die eine Freibad-Spiegelung ergeben."

Weiteres: Ingeborg Ruthe unterhält sich für die FR mit der Künstlerin Mouna Hatoum, die derzeit an drei Orten in Berlin ausstellt. Sabine Weier berichtet in der taz vom 55. Steirischen Herbst in Graz, wo größtenteils Werke von Künstlern aus dem postsowjetischen Raum gezeigt werden. Gunda Bartels besucht für den Tagesspiegel das Atelier des schwedischen Bildhauers Ricard Larsson in Berlin. Besprochen wird die Ausstellung "Mining Photography" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (taz).
Archiv: Kunst