Napoleon hat Goethes Leben verändert. Aus dem Dichter wurde ein politischer Mensch

Als der französische Kaiser 1808 in Erfurt ein Gipfeltreffen der europäischen Grossmächte einberief, wollte er auch den Weimarer Dichterfürsten sprechen. Das Treffen hatte eminente Folgen, wie Jeremy Adler in seiner Goethe-Biografie schlüssig darlegt.

Roman Bucheli
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Sie waren ein ungleiches Paar, und dennoch verband einiges Napoleon und Goethe.

Sie waren ein ungleiches Paar, und dennoch verband einiges Napoleon und Goethe.

AKG / Keystone, Getty

Angst und Schrecken sassen den Menschen in Jena am Morgen des 13. Oktober 1806 noch in den Knochen. Am Abend zuvor waren die französischen Truppen einmarschiert, hatten die Preussen aus ihren Stellungen vertrieben und die Stadt eingenommen. Obwohl die Franzosen als Befreier kamen, fürchtete man die Soldaten und ängstigte sich vor Plünderungen und Willkür. Und kaum war der Gefechtslärm rund um die Stadt verstummt, ritt Napoleon auf seinem Pferd durch Jena.

Ein Zeuge dieses historischen Augenblicks war der Philosoph Hegel. Auch er machte sich Sorgen, da er gerade die letzten Manuskripte der «Phänomenologie des Geistes» an seinen Verleger geschickt hatte und nun bangte, ob sie auch heil durch den Tumult kommen würden. Doch er ahnte, dass Ungewöhnliches bevorstand. Noch am selben Tag schrieb er seinem Freund Niethammer: «Den Kaiser – diese Weltseele – sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht.»

Es sei unmöglich, hiess es weiter in Hegels Brief, diesen ausserordentlichen Mann «nicht zu bewundern». Und schliesslich: «Wie ich schon früher tat, wünschen nun alle der französischen Armee Glück.» Tatsächlich wurden am Tag danach die preussischen Truppen besiegt, und zwei Wochen später marschierte Napoleon an der Spitze seines Heeres in Berlin ein.

Zuvor schon hatten die Franzosen Weimar besetzt, wo nun die Stunde der Frauen schlug: Im Schloss hielt ein beherzter Auftritt von Louise, der Frau des abwesenden Herzogs Carl August, den Kaiser in Schach. Und marodierende Truppen, die Goethe in seinem Haus am Frauenplan mit Waffen bedrohten, wurden von Christiane Vulpius, der Haushälterin und Lebensgefährtin des Dichters, zurückgedrängt. Was wiederum Goethe aus Dankbarkeit dazu veranlasste, das Verhältnis zur Mutter seines Sohnes endlich zu legalisieren und Christiane zu heiraten.

Politischer Explosivstoff

Aus guten Gründen stellt der britische Germanist Jeremy Adler Napoleons Feldzug von 1806 und dessen Folgen in den Mittelpunkt seiner eben erschienenen Goethe-Biografie. Die beiden verband mehr, als man denken möchte. Nicht umsonst gehörte Goethes früher Erfolgsroman «Die Leiden des jungen Werther» zu den von Napoleon besonders geschätzten Büchern. Er behauptete, das Werk märchenhafte sieben Mal gelesen zu haben.

In Werthers bedingungslosem und auch selbstzerstörerischem Individualismus erkannte der Herrscher eigene Wesenszüge. Und umgekehrt sah Goethe in Napoleon eine Art Wahlverwandten, dessen politisches Sendungsbewusstsein in manchen Hinsichten übereinstimmte mit seinen eigenen Auffassungen vom Freiheitsdrang des Menschen.

Bereits in seinen frühesten Werken vertrat Goethe die Überzeugung, dass der Mensch erst da zu seiner wahren Bestimmung finde, wo er selbstbestimmt, freiheitlich und seinen innersten Neigungen folgend zu leben vermöge. Doch erst in der Begegnung mit Napoleon erkannte Goethe, wie viel politischen Explosivstoff und visionäre Gestaltungskraft sein dichterisches Programm mit dem darin gezeichneten Menschenbild für das vorrevolutionäre Deutschland bereithielt.

Wenn der Feldherr und Staatsmann Europa neu gestaltete und in eine Moderne zu führen hoffte, die freilich erst mit der europäischen Friedensordnung im 20. Jahrhundert ihre Erfüllung fand, dann entwarf Goethe eine nicht minder revolutionäre individualistische Lebensauffassung. Sie kam, so Jeremy Adlers Generalthese und Untertitel der Biografie, einer «Erfindung der Moderne» gleich. Nicht zu überschätzen seien nämlich Goethes Beiträge zur Erneuerung des Denkens. Sie nahmen Auffassungen vorweg, die sich in vielen Bereichen, von der Kunst bis zur modernen Physik oder Verfassungslehre, erst im 20. Jahrhundert allmählich herausbildeten.

Zwei Jahre nach seinem Sieg über Preussen kam Napoleon noch einmal nach Thüringen. Im Herbst 1808 versammelte er Europas Machtelite in Erfurt zu einem Fürstenkongress: Zar Alexander I. sowie vier Könige und acht Herzöge folgten dem Ruf zu Beratungen über eine neue Bündnispolitik. In diesem glanzvollen Rahmen begegneten sich am 2. Oktober 1808 Goethe und Napoleon in Erfurt. Der französische Kaiser hatte ausdrücklich um einen Besuch des Dichters gebeten, den er, wie Goethe in seinen Erinnerungen noch Jahre später festhielt, mit den Worten begrüsste: «Vous êtes un homme.»

Ein Orden für Goethe

Jeremy Adler erzählt die Geschichte dieses Treffens wie ein militärisches Manöver, in dem Napoleon sein machtpolitisches Projekt mit einer kulturpolitischen Offensive zu krönen trachtete. Goethe spielte nicht ohne Talent mit, da er erkannt haben musste, wie nahtlos sich zum Beispiel seine Vorstellungen von einer die nationalen Grenzen sprengenden Weltliteratur in diese Dispositionen fügten. «Ich will gerne gestehen, dass mir in meinem Leben nichts Höheres (. . .) begegnen konnte», schrieb Goethe zwei Monate nach der Unterredung und nachdem er von Napoleon das Kreuz der Ehrenlegion verliehen bekommen hatte.

Er liess danach nichts mehr auf «meinen Kaiser» kommen, wie er zu sagen pflegte, und als Napoleon längst in die Verbannung geschickt worden war, trug er den Orden weiterhin, wenn nun auch etwas diskreter. Jeremy Adler weist mit Nachdruck darauf hin, dass die Begegnung in Goethes Leben einen Wendepunkt darstellte und zugleich ein eminentes, weithin sichtbares Signal für einen kulturpolitischen Aufbruch war. Das hatte bereits Nietzsche erkannt, der hier die «unzweideutigsten Anzeichen», dass «Europa eins sein will», gesehen haben wollte.

Auch wenn Goethe nicht Napoleons Ruf nach Paris folgte, so war er dennoch über dessen Tod hinaus sein bester Botschafter. Die eigentliche Pointe von Jeremy Adlers Darstellung besteht denn schliesslich darin, dass er Goethes von Napoleon beschleunigte Vollendung dort sichtbar werden lässt, wo der verblendete Machthaber ins Verderben der diktatorischen Anmassung läuft: Im Augenblick, da Goethe die politische Dimension seines Schaffens zu verstehen beginnt, wird er zum Wegbereiter des europäischen Liberalismus.

«Welche Regierung die beste sei», fragt Goethe – und antwortet: Jene, «die uns lehrt, uns selber zu regieren». So bleibt sich Goethe treu in allen Wandlungen, die er in seinem langen Leben vollzieht: Der Mensch ist nie so sehr Mensch wie da, wo er sich bildet. Und die vornehmste Aufgabe eines modernen Staatswesens mündiger Bürger besteht gerade darin, die Grundlagen für diese freie Entwicklung des Individuums zu garantieren.

Jeremy Adler: Goethe. Die Erfindung der Moderne. Eine Biografie. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Verlag C. H. Beck, München 2022. 655 S., Fr. 39.90.