Endlich Frühling – zum Glück gibt’s genug zu lesen: Zehn Buchtipps für Stunden, von denen man hofft, sie würden nie zu Ende gehen

Die Sonne scheint wärmer, die Tage werden länger. Aber lesen kann man immer noch. Die NZZ-Feuilletonredaktion empfiehlt aktuelle Bücher für milde Frühlingstage.

Thomas Ribi 11 min
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Wenn man liest, verschliesst man die Augen nicht vor der Welt. Im Gegenteil, man sieht alles viel genauer.

Wenn man liest, verschliesst man die Augen nicht vor der Welt. Im Gegenteil, man sieht alles viel genauer.

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Kein Mensch ist eine Insel

Birgit Schmid · Alles ist verbunden, Körper und Geist sind eins, das Ich spiegelt sich im Du: In ihrem Essayband «Mütter, Väter und Täter» wählt die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt die sich auflösenden Grenzen als Leitmotiv. Darin finden sich Erinnerungen an ihre norwegische Grossmutter und ihre Mutter, aber auch Kunstbetrachtungen oder Ausflüge in die Medizin. Einen Fokus legt die Feministin auf Frauen und ihren Körper. Sie ergründet den Frauenhass in der westlichen Welt und sucht Antworten von der Antike bis zu Twitter. Hustvedt, die sich in ihrem Schreiben neben Kunst und Psychoanalyse auch für Biologie und Neurowissenschaften interessiert, nimmt überraschende Sichtweisen ein. Dabei betont sie den Wert des ungesicherten Wissens. Vieles bleibe unbekannt, was während der Schwangerschaft im Mutterleib passiere, schreibt sie im Kapitel «Was will der Mann?». Sie kritisiert das binäre Denken und führt die Misogynie darauf zurück: Diese sei besessen von der Differenz, was sich auch beim Thema Transgender zeige. «Ich habe das Unbekannte immer für ebenso wichtig gehalten wie das Bekannte, weil es verhindert, dass Gewissheit zum Dogma wird.» Sie selber führt in ihren Essays vor, wie erkenntnishaft es sein kann, bloss Fragen zu stellen.

Siri Hustvedt: Mütter, Väter und Täter. Essays. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2023. 448 S., Fr. 33.90.

Notizen aus dem Pariser Intimleben

Roman Bucheli · Im Dezember 1851 beginnen die Brüder Goncourt ihr berühmt berüchtigtes Journal, in dem sie sich mit scharfem Verstand und polemischer Ungerechtigkeit über das Pariser Gesellschaftsleben mokieren. Wer von ihnen erwähnt wird, ist gekränkt, doch ebenso, wer ignoriert wird. Erst 1956 erscheint eine unzensierte Ausgabe: 5000 Seiten in 22 Bänden. Vor über dreissig Jahren hat die Schriftstellerin und Malerin Anita Albus daraus eine Auswahl ins Deutsche übersetzt, die nun wieder neu aufgelegt worden ist. Am ausgiebigsten kommt Gustave Flaubert zur Sprache, Bewunderung und Verachtung halten sich die Waage. Im Januar 1860 besuchen die Goncourts den Schriftsteller in dessen Haus: «Auf dem Tisch liegen Seiten seines Romans, die fast nur aus Streichungen bestehen.» Zwei Monate später heisst es: «Sein Geist ist plump und teigig wie sein Leib.» Als Flaubert im Mai 1880 stirbt, notiert Edmond: «Für eine Weile war ich in meinem ganzen Sein so erschüttert, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat.» Die anrührendsten Einträge jedoch widmen die Brüder ihrem Dienstmädchen Rosalie Malingre. Bei ihrem Tod 1862 sind sie untröstlich: «Ob Kummer oder Freude, sie teilte alles mit uns.» Wenige Tage später erfahren sie, dass sie die ganze Zeit ein Doppelleben geführt hat: Sie hatte Verhältnisse mit Männern, die sie bezahlte, hatte zwei Kinder zur Welt gebracht, und sie muss unter diesen Heimlichkeiten unsäglich gelitten haben. Von all dem wissen die Brüder nichts. Ihre Ahnungslosigkeit gegenüber diesem Leid trifft sie im Innersten, noch fast mehr als der Verlust.

Edmond und Jules de Goncourt: Blitzlichter. Aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Anita Albus. Galiani-Verlag, Berlin 2023. 352 S., Fr. 34.90.

Was tun, wenn der Dickdarm platzt?

Andreas Scheiner · Einmal, in einer Villa am Genfersee, einer luxuriösen Suchtklinik mit Butler und Koch, da wäre der Hollywoodstar Matthew Perry fast gestorben. Fünf Minuten Herzstillstand. Die «Intelligenzbestien» in der Klinik, so schreibt er, hätten etwas versucht und ihm Propofol injiziert, «das Anästhetikum, das Michael Jackson umgebracht hat». Perry wachte elf Stunden später in einem anderen Krankenhaus wieder auf. «Irgendein bulliger Schweizer» habe offenbar nicht gewollt, dass der Typ aus «Friends» auf seinem OP-Tisch sterbe, also habe er ihn ganze fünf Minuten lang wiederbelebt. «Hätte ich nicht bei ‹Friends› mitgespielt, hätte er dann nach drei Minuten aufgehört?», fragt sich der Schauspieler, der in der Fernsehserie ab Mitte der neunziger Jahre den beziehungsgestörten Chandler verkörperte. «Hatte mir ‹Friends› wieder einmal das Leben gerettet?» Der Sitcom-Star erzählt das so lapidar dahin, er hat massenhaft irrwitzige Episoden auf Lager. Perry ist mehr als einmal fast verschieden, seine Autobiografie legt gleich mit einer zweiwöchigen Koma-Erfahrung los. Während deren er sich in sein Beatmungsgerät erbrochen hat. Was dann erstens eine Lungenentzündung zur Folge hatte. Und anschliessend platzte dem Mann der Dickdarm. Überlebenswahrscheinlichkeit: zwei Prozent. Perry, 53 Jahre alt, hat allerhand Haarsträubendes auf gut 300 Seiten heruntergeschrieben. Heruntergehackt, muss man fast sagen. In einem einzigen Schwall schüttet er alles aus, nicht unbedingt stilbewusst, aber völlig ungehemmt: ein Leben im Suff, abhängig von Alkohol und Medikamenten, dazu Potenzprobleme. In «Friends» wirkt er so unbeschwert, hier hält er mit nichts zurück. Eine Überlebensgeschichte aus Hollywood, wie man sie selten zu lesen bekommt.

Matthew Perry: Friends, Lovers and the Big Terrible Thing. Autobiografie. Aus dem Amerikanischen von Nina Restemeier, Wiebke Pilz, Thomas Gilbert. Lübbe-Verlag, Köln 2022. 320 S. Fr. 33.90.

Europa und der erste Zug aus einer Gauloise

Thomas Zaugg · Der Historiker als Teilnehmer der Geschichte, die er selbst schreibt: Auf dieses Experiment lässt sich der Brite Timothy Garton Ash in seinem neuen Buch ein. Er erzählt von der Stationierung seines Vaters als Besatzungssoldat im Nachkriegsdeutschland. Er schildert den schweissigen Geruch des Kalten Kriegs und Europas, das ihn an das Inhalieren seiner ersten Gauloises erinnert. Er spricht mit den Stasi-Beamten, die ihn bespitzelten – und beschreibt 1989 nahezu greifbar als «Jahr der Wunder». Einmal blickt er mit Humor auf seinen verstorbenen Vater, den er als Brexiteer einschätzt. Dann kritisiert er das globale liberale Establishment der vergangenen Jahrzehnte. Europa fand für Garton Ash noch nie nur im Westen statt, was seine Werke für die Gegenwart besonders interessant macht. Er würdigt die europäischen Errungenschaften, die sich durch grösste Katastrophen hindurch immer wieder erneuert hätten. Das Experiment lässt zwischendurch auch deshalb tief blicken, weil Garton Ash in seiner Person die Rolle des Journalisten, Gelehrten und Politberaters vereint.

Timothy Garton Ash: Europa. Eine persönliche Geschichte. Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Hanser-Verlag, München 2023. 448 S., Fr. 46.90. Das Buch erscheint am 17. April.

Die Dinge meines Lebens

Philipp Meier · Warum kaufen wir Dinge, die wir gar nicht brauchen? Es ist eine Binsenwahrheit, dass wir von viel zu vielen Dingen umgeben sind. Wir leben in einem noch nie da gewesenen Konsumzeitalter. Doch die Kritik an unserem Kaufverhalten ist nicht neu. Anders und daher spannend blickt Valentin Groebner in seinem Buch «Aufheben, wegwerfen» auf die im strengen Sinn unnützen, aber schönen Dinge, die Menschen in ihren Wohnungen aufbewahren, allein deshalb, weil sie sie mögen. Weil von ihnen eine besondere Ausstrahlung ausgeht und sie eine bestimmte Wirkung auf sie haben. Was für Dinge sind das? Der Test ist einfach: Wenn dein Haus brennt und du kannst maximal zehn Dinge einpacken, für welche würdest du dich entscheiden? Beim einen gehören die Fotoalben dazu, beim anderen ein geerbtes Porzellanservice, beim Dritten sein teures Fahrrad. Groebner, der Luzerner Geschichtsprofessor, nennt dies den Konflikt zwischen dem Praktischen, dem Wertvollen und dem Sentimentalen. Sein Buch ist ein wunderbarer Lesestoff über die Warenlust – und das damit verbundene schlechte Gewissen. Das Akkumulieren führe zu einem Gefängnis, «das man selbst gebaut und bezahlt hat». Groebner spricht aus eigener Erfahrung. Und sinniert über den Verzicht als Befreiung nach. Aber der Minimalismus des Nichtbesitzens sei auch nur eine Sehnsucht nach einem guten Leben aus einer vermeintlich genügsameren Vergangenheit. 1976 soll Ikea mit «Simplicity is beautiful» geworben haben. Heute liest man Marie Kondo, die japanische Starautorin des aufgeräumten Lebens. Klug und mit Witz blickt Groebner hinter den Vorhang dieser Feier der Leere als erstrebenswerten Ziels der eigenen Vervollkommnung.

Valentin Groebner: Aufheben, wegwerfen. Vom Umgang mit schönen Dingen. Konstanz University Press, Konstanz 2023. 171 S., Fr. 29.90.

Tod eines Pianisten

Thomas Ribi · Deutschland, 1943: Reichsmarschall Göring feiert seinen fünfzigsten Geburtstag, Goebbels fordert den «totalen Krieg», in Stalingrad sind 200 000 deutsche Soldaten eingekesselt. Am Volksempfänger singt Magda Hain «Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt», Sophie und Hans Scholl rufen mit Flugblättern zum Widerstand auf, und die Zeitschrift «Die Dame» empfiehlt Jäckchen als Accessoire für alle Gelegenheiten: «hübsch und modisch», vor allem, weil man sie aus gebrauchten Kleidungsstücken herstellen kann. Oliver Hilmes neues Buch «Schattenzeit» ist ein Panorama Nazideutschlands im vierten Jahr eines Kriegs, von dem damals bereits alle wussten, dass er nie gewonnen werden kann. Und von dem viele ahnten, dass er das Land in den Untergang führen wird. Eine Collage aus Zeitungsmeldungen, Feldpostbriefen, Wehrmachtsberichten und Tagebucheintragungen. Zugleich ist es ein Buch über den Pianisten Karlrobert Kreiten, dessen Biografie sich als roter Faden durch die Erzählung zieht. 1943 war Kreiten sechsundzwanzig und galt als einer der vielversprechendsten Musiker seiner Generation. Er spielte vor ausverkauften Sälen, sein Lehrer Claudio Arrau hielt ihn für das grösste Talent, dem er je begegnet sei. Am 2. Mai 1943 wurde Kreiten von der Gestapo verhaftet. Im Gespräch mit einer Freundin seiner Mutter hatte er Hitler als wahnsinnig bezeichnet und gesagt, er halte den Krieg für verloren. Die Frau hatte ihn denunziert, das Gericht klagte ihn an und verurteilte ihn zum Tod: Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung. Am 7. September wurde Karlrobert Kreiten im Gefängnis von Berlin-Plötzensee erhängt, zusammen mit über zweihundert Mithäftlingen. Ein paar Wochen später stellte die Berliner Gerichtskasse seinen Eltern eine Rechnung zu. Die Kosten für 63 Tage Gefängnisaufenthalt, den Pflichtverteidiger, das Strafverfahren und die Hinrichtung: insgesamt 639 Mark und 20 Pfennig.

Oliver Hilmes: Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe. Siedler-Verlag, München 2023, 304 S., Fr. 37.90.

Ein bisschen Inspiration und viel Handwerk

Christian Wildhagen · Zugegeben, der Titel klingt nach einem trockenen Lehrbuch. Unwillkürlich wittert man Spezialistenprosa, Fach- und Nischenprobleme, eingehüllt in die stickige Luft eines Elfenbeinturms. Doch nichts von alledem hier: Diese gut zweihundert Seiten sind eine ebenso intelligente wie vergnüglich zu lesende Plauderei, und das über ein Thema, das als rational schwer zu fassen gilt. Noch schwerer ist, es so anschaulich zu durchleuchten, wie es Claus-Steffen Mahnkopf mit leichter Hand gelingt. Denn wie eigentlich Musik entsteht, grosse, weltbewegende zumal – diese Frage ist immer noch vom Schleier des Irrationalen umgeben. Entsprechend schwingt im Berufsbild des Komponisten viel vom Geniekult des 19. Jahrhunderts nach. Die handwerkliche Seite, das Schreiben von Noten und Partituren, ist nämlich bloss das eine; dieses Metier lässt sich lernen, auch anspruchsvoll programmierte Algorithmen beherrschen es längst. Doch was ist mit der anderen Seite, mit der Empfindung vieler Schaffender, dass ihnen ihre Einfälle im entscheidenden Moment von einer «höheren» Instanz diktiert würden? Mahnkopf, selber Komponist, Philosoph und Essayist, lässt sich nicht blenden vom Zauber der unergründbaren Inspiration – er legt die Strategien offen, mit denen Komponisten aus den mehr oder weniger göttlichen Eingebungen überhaupt erst bedeutende Werke schaffen. Und er zeigt auch, wie stark Komponieren auf wechselnden ästhetischen Setzungen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beruht. Zwischen Moden und Maschen, Kunst und Kommerz hier einen eigenen gültigen Weg zu finden, war zu allen Zeiten die Herausforderung. Angesichts der medialen und technischen Möglichkeiten unserer Zeit ist sie für heutige Komponisten – auch das zeigt dieses erhellende Buch – nicht kleiner geworden.

Claus-Steffen Mahnkopf: Die Kunst des Komponierens. Wie Musik entsteht. Reclam-Verlag, Stuttgart 2022. 238 S., Fr. 39.90.

Thomas Mann, gegen seine Liebhaber verteidigt

Thomas Ribi · Thomas Mann ist ein Klassiker. Aber einer, der Abwehrreflexe weckt, auch heute noch: als Dichterfürst, der sich selbst zum Repräsentanten einer Bürgerlichkeit stilisierte, von der er wusste, dass sie untergegangen war; als Unnahbarer, der in der Ironie das Mittel fand, um sich und sein Werk jeder Belangbarkeit zu entziehen; und als Ästhet, der sich den Widersprüchen seiner Zeit nicht aussetzte, sondern sie zerredete. Unter dem Titel «Thomas Mann oder der Selbsterwählte» formulierte der deutsche Publizist Hanjo Kesting 1975 zum hundertsten Geburtstag Thomas Manns eine beissende Kritik am Werk des Nobelpreisträgers. Oder eher eine Abrechnung, die in ihrer Einseitigkeit erhellend zu lesen ist, auch wenn sie in den entscheidenden Punkten das Richtige sieht, aber die falschen Schlüsse daraus zieht. Thomas Manns hervorragende Eigenschaft, hiess es in dem polemischen Text, sei sein Selbstmitleid, das nur noch von seiner Selbstbewunderung übertroffen werde. Fast fünfzig Jahre später legt Kesting ein Buch vor, das zum Lesenswertesten gehört, was über Thomas Mann geschrieben wurde. Die zwölf Essays im Band «Thomas Mann. Glanz und Qual» vereinen Werkanalysen, Betrachtungen zu Manns politischer Publizistik und Annäherungen an einen Autor, der sich den Leserinnen und Lesern ebenso entzieht, wie er sich vor sich selbst zu verbergen bemühte. Er sei mittlerweile selbst zu einem Verehrer Thomas Manns geworden, schreibt Kesting im Vorwort. Das spricht aus jeder Zeile seiner Texte. Aber man spürt darin auch den kritischen Leser, in dessen Bewunderung noch der Stachel des Widerspruchs steckt. Kesting verteidigt den grossen Ironiker Mann gegen seine Liebhaber. Weil er weiss, dass die Bedeutung Thomas Manns gerade darin liegt, zu zeigen, wie brüchig das ist, woran er selbst gern geglaubt hätte.

Hanjo Kesting: Thomas Mann. Glanz und Qual. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023. 398 S., Fr. 41.90.

Ein Buch zum Reden

Nadine Brügger · Manche Bücher tun gut. Weil sie ihre Leserschaft mit auf Reisen nehmen, in ein anderes Land, eine andere Zeit. Auch «Hast du Nein gesagt?», verfasst von den Journalistinnen Natalia Widla und Miriam Suter, tut gut. Nur anders. Eskapismus bietet dieses schmale Büchlein nicht. Im Gegenteil: Suter und Widla führen tief in die Schweiz der Gegenwart. «Hast du Nein gesagt?» thematisiert den – noch immer oft problematischen – Umgang mit sexualisierter Gewalt. Der Fokus liegt auf den drei ersten Instanzen, mit denen Betroffene nach einer Tat zu tun haben: Polizei, Opferhilfe und Sexualstrafrecht. Anhand dreier Erlebnisberichte zeigen die Autorinnen, welche Rechte und Möglichkeiten Betroffene von sexualisierter Gewalt haben, aber auch, welche Hürden, Lücken und Vorurteile sich ihnen in den Weg stellen. Das Buch ist eine Bestandesaufnahme. Ausführlich zu Wort kommt neben Expertinnen aus der Opferhilfe, Psychologie und Polizei auch die ehemalige Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Karin Keller-Sutter. Eine Einordnung der Erkenntnisse durch die Autorinnen fehlt grösstenteils. Dennoch tut das Buch von Widla und Suter gut. Weil es Informationen und Perspektiven so umfassend und leicht zugänglich macht wie bisher kaum ein Sachbuch zum Thema. Damit bietet es die Grundlage einer Diskussion, die in der Schweiz auf allen Ebenen geführt werden muss.

Miriam Suter / Natalia Widla: Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt. Limmat-Verlag, Zürich 2023. 176 S., Fr. 28.90.

Briefe eines Unbehausten

Marion Löhndorf · «Ich freue mich jedenfalls jedes Mal auf unsere Gespräche, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen», schreibt Jörg Fauser in einem seiner letzten Briefe an den Vater. Es ist ein rastloses Leben, das er führt. Zahlreiche Umzüge, verschiedene Städte und Länder, wechselnde Beziehungen zu Frauen, immer neue Schreibprojekte, teils journalistische, teils grosse Buchvorhaben. Die jetzt in einer erweiterten, mit Faksimiles versehenen Ausgabe publizierten «Briefe an die Eltern» bilden eine Konstante im ständigen Wechsel eines Daseins, dessen enorme Anstrengungen Fauser kaum je ausbuchstabiert, die sich aber zwischen den Zeilen des Briefeschreibers erahnen und von den wechselnden Adressen ablesen lassen. Der sogenannte Kultautor der 1980er Jahre, der mit Romanen wie «Rohstoff» oder «Der Schneemann» berühmt wurde, schreibt in ungefilterter Intensität an die Eltern, die er bis zuletzt als «Liebe Mammi, lieber Pappi» adressiert. Die für so einen komplizierten Mann erstaunlich unkomplizierte Liebe zu ihnen ist greifbar, sie bildet den Grundton dieser Briefe, die in der Kindheit beginnen. Darin äussert sich seine frühe, wilde Entschlusskraft: Dass er Schriftsteller werden wollte, stand für ihn schon fest, bevor er je etwas veröffentlicht hatte. Freiheit und Unabhängigkeit im Leben und Denken gehören von Anfang an zu unverhandelbaren Werten. Kommentare zu politischen und kulturellen Ereignissen der Bundesrepublik werden in den Briefen zum Hintergrundrauschen, auch und besonders dann, wenn er sein Land von ferne betrachtet. Was er erlebt und was ihn interessiert, macht Fauser sich bewusst als Material für den nächsten Artikel, den nächsten Roman zu eigen: «Die Schreiberei», sagt er an einer Stelle, «sie ist doch das einzige, was hält.»

Jörg Fauser: Man hängt halt so an dem, was man hat. Briefe an die Eltern. Diogenes- Verlag, Zürich 2023. 464 S., Fr. 34.–.