A. L. Kennedy in ihrem Roman über Grossbritannien: «Es ist, als befände man sich in einem apokalyptischen Märchen über das dumme Ende eines sehr dummen Landes»

Die schottische Schriftstellerin rechnet mit der britischen Gesellschaft und Politik erbarmungslos ab. Ihr Roman ist ein Heimatroman, der von einer Endzeit erzählt.

Paul Jandl 5 min
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Die Schriftstellerin A. L. Kennedy zeichnet ein desaströses Bild der britischen Gegenwart.

Die Schriftstellerin A. L. Kennedy zeichnet ein desaströses Bild der britischen Gegenwart.

Guillem López / Imago

Ein bisschen Geraune schadet nicht. Auf Deutsch kann der neue Roman der weltberühmten Schriftstellerin A. L. Kennedy schon gelesen werden, bevor er überhaupt im Original erschienen ist. Hat es die Heimat-Exorzistin Englands diesmal übertrieben? War der Stoff zu hart für ein Brexit-gebeuteltes britisches Publikum? Oder wollen die Verlage eine Politik schonen, die ihrem vor leeren Gemüseregalen stehenden Volk sagt, dass der Brexit ein Segen sei? Gemüseregale sind Gemütsregale, das weiss auch die Regierung.

Ganz ohne Mutmassungen: Der Roman «Als lebten wir in einem barmherzigen Land» erkennt die britische Wirklichkeit so bedrückend genau, weil er überall Gespenster sieht. Er sieht das Tarnen und Täuschen und die Menschen dahinter. Der Ex-Premierminister Boris Johnson, den A. L. Kennedy einmal einen «Killerclown» genannt hat, kommt namentlich nicht vor, aber seiner politischen Kultur wird die Maske vom Gesicht gerissen.

In der Gegenwart ihres Buches beschreibt Kennedy die Corona-Jahre und die Doppelstandards, unter denen Volk und politische Elite die Pandemie bewältigen. Cocktail-Partys in Downing Street 10, Lockdown-Regime für die Bürger. Bis in die achtziger Jahre geht die Schriftstellerin zurück auf ihrer Suche nach Symptomen, unter denen das Land zu dem wurde, was es heute ist. Die Doppelmoral von ganz oben hat die einfachen Menschen in eine Katastrophe geführt. In den Notstand drohender Verarmung und seelischer Ausgelaugtheit.

Der Freund ist ein Spitzel

Auf gewisse Weise besteht «Als lebten wir in einem barmherzigen Land» aus zwei Romanen. Aus stilistischen und inhaltlichen Antipoden. In Corona-Zeiten schreibt die Grundschullehrerin Anna an einer Art Krisentagebuch. Es geht um die Arbeit im Londoner Stadtteil Oakwood, um die heillos zerfallene Wirklichkeit der Schüler und um Versuche, im Chaos so etwas wie Idylle zu installieren.

In die Gegenwart von Anna ragt eine Geschichte aus der Vergangenheit. Die Geschichte von Buster. Früher einmal war Anna als «The Amazing Anna Ladystrong» unterwegs. Mit dem «OrKestrA» hat sie aktivistisches Strassentheater gemacht und so auch Buster kennengelernt, der eines Tages einfach auch dabei war. Mit Buster war es Sex und ein bisschen Liebe, mit der Truppe clowneske Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Es waren die achtziger und neunziger Jahre, deren Formate des Protests sich einerseits naiv ausnehmen, andererseits aber auch wie das Vorbild heutiger Klimaaktivisten.

Buster, so stellte sich später heraus, trug hinter seinen Masken noch eine andere. Er war Spitzel der berüchtigten Metropolitan Police, die noch bis weit in die Gegenwart Protestbewegungen aller Art unterwanderte. Reales Vorbild für A. L. Kennedys Buster könnte ihr Namensvetter Mark Kennedy gewesen sein, dessen Tarnung 2010 aufflog. Der Spitzel, als Mark Stone operierend, war nicht nur für die britischen Behörden tätig, sondern noch für einundzwanzig andere Länder. Darunter auch Deutschland.

Agenten dieser Art hatten Befugnisse, mit denen die Grenzen des üblichen Legalen weit überschritten waren. Psychologische Manipulation zählte noch zu den harmloseren Dingen, aber hier setzt A. L. Kennedys Roman an. Beim kategorischen Verrat, der im Auftrag verkommener politischer Systeme stattfindet. Der falsche Clown ist die Metapher für das Böse schlechthin und das Volk ein bis zum Fürchten betrogenes Kind.

Es gehört zu A. L. Kennedys literarischem Realismus, dass sie ihr Personal nicht zu erzählerischer Ökonomie zwingt. Anna McCormick redet vor sich hin, als würde sie an der Bushaltestelle ein Rudel politikkritischer Lehrerkolleginnen bei Laune halten wollen. Sie schweift ab, kommt in ihrer schwarzseherischen Suada auf die Idee, auch einmal etwas Angenehmes einzustreuen oder ein Rezept für echt gute Scones zu verraten.

A. L. Kennedy ist auf das Synkopische der Gefühle spezialisiert. Ihre Figuren leben in einer Hoffnungslosigkeit, die mit den Lebensfakten nicht immer synchron ist. Beruhigendes kann beunruhigend sein, und aus turbulentem Unglück blitzt ein plötzliches Glück. Auch Anna erzählt nicht deshalb, weil sie alles über sich wüsste, sondern weil sie schwerwiegende Zweifel hat.

Der Lockdown der Corona-Zeit hat das Brexit-Inselgefühl verschärft. Alle früheren Gewissheiten sind erschüttert. Über Zoom strecken sich die sozialen Bedürfnisse den Mitmenschen entgegen. Der Unterricht findet digital statt. Francis, die noch relativ neue Affäre, steckt auf der schottischen Insel Colonsay fest und ist am Anfang des Romans nur per Bildschirm anwesend. Annas pubertierender Sohn Paul teilt immerhin den Lockdown mit ihr. Ein Wesen von altruistischer Anmut. Im Lockdown beschliesst Anna, exzentrisch zu werden. Was bleibt einem auch anderes übrig. «Mama, du trägst Flipflops, Unterhose und deine Backschürze. Du hast dein Ziel erreicht. Exzentrisch», sagt Paul.

A. L. Kennedy schraubt den moralischen Suspense aber noch in literarische Höhen, indem sie den Texten der freundlich dauerplaudernden Anna die Protokolle Busters gegenüberstellt. Er hat ihr diese Texte, die wie Geständnisse sind, eines Tages einfach vor die Tür geworfen. Man liest mit Anna mit. Es sind minuziöse Beschreibungen von Auftragsmorden. Ein Grössenwahnsinniger berauscht sich an den Möglichkeiten der eigenen Tarnung. Als reinem Narziss unterlaufen ihm keine aus der Empathie kommenden Wahrnehmungsfehler, Skrupel gibt es ohnehin nicht.

Busters Protokolle schildern die verkommene Macht noch einmal von innen. Er hat auch hohe Regierungsbeamte zu liquidieren, die mit ihren Sex- und Drogenaffären gut ins Muster der Truppe von Boris Johnson gepasst hätten. Buster, selbst womöglich Missbrauchsopfer, ist das idealtypische Monster. Fehlerfrei den Fehler im System auszumerzen, ist sein Beruf. Welcher Fehler auszumerzen ist, sagen ihm seine Auftraggeber.

Angst vor Englands Zukunft

Wenn es um Kritik an der Macht geht, ist A. L. Kennedy auf der Höhe ihrer Kunst. Das sieht man an Busters analytischer Prosa, die unversehens in eine Poetisierung der Gewalt umkippen kann. In fast lyrische Marotten der Selbstgerechtigkeit. Und man sieht es an den essayistischen Passagen, in denen die Grundschullehrerin McCormick über sich hinauswächst und zum Alter Ego Kennedys wird.

Wer die unter anderem in der «Süddeutschen Zeitung» erscheinenden Glossen der Autorin gelesen hat, wird das politische Programm erkennen. Im Roman «Als lebten wir in einem barmherzigen Land» wird daraus allerdings keine Bekenntnisprosa, sondern ein Wachtraum der Angst. Angst vor Englands Zukunft. Angst vor Deklassierung und Armut. Angst vor den bösen Clowns, die in den Augen von A. L. Kennedy eben nicht nur eine Metapher sind, sondern politische Realität.

Weil Kennedy versucht, an dieser Wirklichkeit möglichst genau entlangzuschreiben, gilt, was sie über die britische Gegenwart sagt, auch für ihren finsteren, gegen den bösen Willen geschriebenen Endzeit-Heimatroman: «Es ist, als befände man sich in einem apokalyptischen Märchen über das dumme Ende eines sehr dummen Landes.»

A. L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel. Hanser-Verlag, München 2023. 464 S., Fr. 35.–.

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