Interview

«In Brüssel tummeln sich die Islamisten: Vom Jihadisten, der Verbindungen ins Drogenmilieu hat, bis zum ‹soften› Muslimbruder, der im Europaviertel verkehrt»

Die französische Anthropologin Florence Bergeaud-Blackler forscht seit Jahrzehnten in den islamistischen Parallelgesellschaften Belgiens und Frankreichs. Jetzt hat sie ein Buch über die Muslimbrüder geschrieben – und erhält Todesdrohungen.

Lucien Scherrer 8 min
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«Die EU muss aufhören, toxische Projekte zu unterstützen»: Florence Bergeaud-Blackler, aufgenommen in Brüssel, Januar 2022.

«Die EU muss aufhören, toxische Projekte zu unterstützen»: Florence Bergeaud-Blackler, aufgenommen in Brüssel, Januar 2022.

Sébastien Leban / Divergence

Das Milieu, das die Sozialwissenschafterin Florence Bergeaud-Blackler erforscht, mag Diskretion. Kaum jemand bekennt sich öffentlich zur Muslimbruderschaft, jener radikal-islamischen Bewegung, die Ende der 1920er Jahre in Ägypten gegründet wurde, um die Kolonialherren zu vertreiben. Doch die «Frères» (Brüder), wie man sie in Frankreich und Belgien nennt, sind in Europa sehr aktiv. Imame, die der Ideologie der Muslimbruderschaft nahestehen, rufen Muslime zur Desintegration auf, und sie hetzen gegen Juden und Ungläubige.

Mit ihrer marokkanischstämmigen Kollegin Fadila Maaroufi hat Florence Bergeaud-Blackler die islamischen Parallelgesellschaften untersucht, die in den letzten Jahren in Frankreich und Belgien entstanden sind. Damit hat sich die 58-jährige Forscherin des staatlichen Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) viele Feinde gemacht. Seit sie im Januar ihr Buch «Le frérisme et ses réseaux» (der Frérismus und seine Netzwerke) veröffentlicht hat, erhält sie massive Drohungen. Denn sie zeigt auf, welche Strategien die «Frères» verfolgen, wie sie junge Frauen indoktrinieren und Städte wie Brüssel verändern.

Heruntergekommene Vorstädte voller Extremisten und verschleierter Frauen, Medien, die Hassprediger als Rassismusopfer präsentieren: In der israelischen Serie «Fauda» erscheint Brüssel wie ein Moloch, der den Kampf gegen den Islamismus verloren hat. Entspricht das der Realität?

Was die Sicht auf die belgische Polizei betrifft, ist die Serie sehr realistisch: Der Staat hat in Belgien weder die Mittel noch die Überzeugung, konsequent gegen Islamisten vorzugehen. Aber anders als suggeriert, wurde für «Fauda» nicht in Molenbeek gedreht, in diesem Brüsseler Stadtteil dominieren keine Hochhäuser, sondern klassische Wohnhäuser. In Brüssel tummeln sich alle Typen von Islamisten, vom Jihadisten, der Verbindungen ins Drogenmilieu hat, bis zum «soften» Muslimbruder, der als Lobbyist im Europaviertel verkehrt.

Von den Attentätern, die 2015 in Paris und 2016 in Brüssel über 160 Menschen getötet und Hunderte verletzt haben, kamen einige aus Molenbeek. Warum nimmt man das Problem in Belgien und anderswo nicht ernst?

Brüssel gehört zu den europäischen Städten, die am stärksten vom Frérisme unterwandert sind. Den Terrorismus nimmt man zwar ernst, aber man fällt auf all jene Frères herein, die mit legalen Mitteln kämpfen. Sie tragen Anzüge und bunte Hijabs und geben der angeblich islamophoben Gesellschaft in Europa die Schuld am Terrorismus. Aus ihrer Sicht haben sich die Europäer an ihre Auslegung des Islam anzupassen und nicht umgekehrt. Die Bevölkerung soll sich an ihre fundamentalistischen Normen gewöhnen, von Ess- und Beziehungsvorschriften bis zum Kopftuch. Im Gegensatz zu den Fréro-Salafisten geben sich diese Frères friedfertig, sie reden von Freiheit, Dialog und Diversity. Das macht sie als Partner attraktiv, besonders seit den Attentaten von 2015. Die Frères sagten damals: «Wir sind gegen Jihadismus, wir hindern junge Leute daran, sich dem IS anzuschliessen. Deshalb brauchen wir finanzielle Mittel.»

Die Fréro-Salafisten versuchen die westlichen Gesellschaften mit Gewalt zu verändern. Was ist die Strategie der formell gemässigten Muslimbrüder?

Im Gegensatz zu Islamisten in arabischen Ländern streben sie keinen gewaltsamen Staatsstreich an. Der Frérisme, den ich beschreibe, wurde ab den 1960er Jahren in westlichen Ländern entwickelt, von islamistischen Studenten und Flüchtlingen aus dem arabischen Raum, die sich damit abgefunden hatten, unter «Ungläubigen» zu leben. Da sie zu wenig stark sind, um die Scharia durchzusetzen, versuchen sie, die Gesellschaft Scharia-kompatibel zu machen: Sie soll die Geschlechtertrennung, die Unsichtbarmachung der Frauen und die religiöse, auf Separation ausgerichtete Erziehung von Kindern akzeptieren. Dazu infiltrieren sie Organisationen, sie versuchen, sich überall einzubringen und den Diskurs über den Islam zu bestimmen, in der Bildung, in Stiftungen, in der Polizei, in der Justiz, auch in den Parteien. Keine Brüsseler Partei kann Wahlen ohne Muslime gewinnen.

Das klingt so, als würden alle Muslime im Sinne der Frères stimmen.

Nicht unbedingt. Aber die Frères dominieren oft das religiöse Umfeld der Muslime, und sie impfen jenen, die sie nicht akzeptieren, Schuldgefühle ein. Sie sagen ihnen immer wieder, dass die Europäer sie hassten, und fordern sie auf, Parteien zu wählen, die gegen «Islamophobie» kämpfen. In Belgien etwa die Grünen oder in Frankreich La France insoumise. Jean-Luc Mélenchon wurde von 69 Prozent der muslimischen Wähler gewählt, auch weil er an islamistischen Demonstrationen teilnimmt und seine Partei mit Islamisten gemeinsame Sache macht.

Brüssel ist für die Muslimbruderschaft strategisch wichtig, weil es hier Hunderte Lobbys und Kommissionen gibt, mit denen sich die Politik beeinflussen lässt. Können Sie ein Beispiel nennen für den Einfluss der Frères?

Die EU hat gerade ein Projekt gegen «gegenderte Islamophobie» mit über 250 000 Euro unterstützt, in das zahlreiche Organisationen aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft involviert sind, unter anderem aus Belgien. Ergebnis dieses Projekts ist ein Leitfaden für Medien, wie sie über muslimische Frauen zu berichten haben. Auch der Europarat unterstützt Kampagnen gegen «Islamophobie», hinter denen Organisationen wie die fréristische Femyso oder die antirassistische Enar stehen, welche den Diskurs der Muslimbruderschaft verbreiten.

Gibt es denn keine Islamophobie?

Es gibt leider ordinären Rassismus, der sich gegen Migranten richtet. Wenn man die Islamophobie-Berichte genauer anschaut, sieht man jedoch, dass es meist um Islamistophobie geht und nicht um Islamophobie. Die meisten Menschen wollen sich nicht den Kopf abschlagen lassen, sie wollen nicht mit bärtigen Männern und verschleierten Frauen zusammenarbeiten, die ihnen das Gefühl geben, sie zu verachten. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie alle Muslime hassen. Sie lehnen diese intolerante und suprematistische Interpretation des Islam ab.

Warum werden islamistische Aktivisten von der EU oder auch dem Europarat in Strassburg unterstützt, wo ihre Verbindungen doch bekannt sind?

Vergessen Sie nicht, im Europarat sind auch Länder wie die Türkei vertreten, welche die Agenda der Muslimbruderschaft unterstützen. Was das Verhalten von EU-Politikern und -Beamten betrifft, bin ich etwas ratlos. Es gibt mittlerweile doch einige Studien und Geheimdienstberichte, die die ideologischen und personellen Verbindungen der Frères aufzeigen. Trotzdem arbeitet man mit ihnen zusammen. Es gibt Leute, die verführt und blind werden, wie in Paarbeziehungen, in denen sich ein Partner dominieren lässt von einem Perversen – und es nicht schafft, da herauszukommen. Die Frères sind sehr geschickt darin, Brüderlichkeit zu vermitteln. Sie wissen, wie sie reden müssen, und sie spielen mit der Faszination für das Orientalische.

Der Hijab ist kürzlich auch im Jugendkanal der deutschen Fernsehsender ARD und ZDF als Symbol der Freiheit, des Feminismus und des Antirassismus beworben worden. Wundert Sie das?

Viele glauben tatsächlich, das Kopftuch sei nur ein Kleidungsstück oder gar ein Symbol der Freiheit. Sie fallen auf das Marketing der Frères herein. Das gilt aber nicht nur für Medien und Politik. Am internationalen Frauentag hat man viele Plakate von Firmen gesehen, die mit verhüllten Frauen geworben haben. Das Kopftuch ist ein Symbol der Diversity, mit der man nach neoliberaler Logik Produkte vermarktet. Aber die Frères wollen keine Diversität, für sie gibt es Diversität nur unter der Scharia.

In Ihrem Buch schreiben Sie, die Frères trügen in Europa zu einer Orwellschen Postrealität bei. Wie meinen Sie das?

Ihr Diskurs passt sehr gut in eine Zeit, in der uns Aktivisten glauben machen wollen, ein Mann sei eine Frau oder dass man sich als Hase definieren kann, auch wenn man wie eine Kuh aussieht. Da passt es doch, wenn die Frères behaupten, ein Kopftuch, das viele Frauen tragen müssten, sei ein Symbol der Freiheit. Die Frères passen ihre Aussagen stets ihrem Publikum an. Nach aussen sagen sie: «Seht her, wie bunt wir sind, mein Kopftuch, meine Wahl.» In der Moschee sagen sie dann, dass «Freiheit» die Freiheit Gottes meine. Junge Frauen, die Werbung für die Verhüllung machen und sich stark schminken, werden von den Männern zurückgepfiffen und darüber aufgeklärt, dass dies eine nuttige Attitüde sei.

Sie forschen seit dreissig Jahren im Milieu der Muslimbruderschaft, haben in Bordeaux in Moscheen verkehrt und mit muslimischen Familien gearbeitet. Waren Sie schon immer derart kritisch?

Zuerst bin ich auf die Frères hereingefallen, wie viele andere auch. Ich dachte, man müsse ihnen zuhören, es seien Leute, die sich integrieren wollten. Erst nach einiger Zeit habe ich erkannt, dass ihre Handlungen nicht zu ihren Worten passen. Gilles Kepel war einer der Ersten, die über Islamismus geschrieben haben. Zuvor glaubte man, es gebe in Frankreich keine Islamisten. Es war tabu, darüber zu sprechen. Das taten nur Rechtsextreme wie Jean-Marie Le Pen, der einen antisemitischen, rassistischen Diskurs pflegte. Aus der Sicht der Universitäten gab es nur Migranten, die von der Mehrheitsgesellschaft unterdrückt werden. Man wollte nicht sehen, dass es solche gibt, die der Gesellschaft ihre Werte aufzwingen und sie verändern wollen.

Und wie haben die Frères auf Sie reagiert?

Zuerst wollten sie mich rekrutieren.

Sie scherzen!

Überhaupt nicht. Die Frères suchen Leute, die gut integriert sind, sie sind keine Sektierer, die einen vom eigenen Milieu entfremden. Im Gegenteil, sie wollen, dass man das eigene Milieu für sie öffnet. Sie wollen Kompetenzen und Wissen, Leute, die an Universitäten arbeiten. Das erlaubt ihnen, den Islam zu französisieren und ihren Diskurs zu intellektualisieren, etwa indem sie ihre Sprache mit postkolonialistischem Jargon anreichern. Als ich nicht konvertiert bin, mich nicht verhüllt habe und nicht geschrieben habe, was sie wollten, wurde ich in den Augen der Frères eine Feindin. Da hatte ich es schwieriger, Zugang zu Diskussionskreisen und Moscheen zu erhalten.

Islamismus ist in Belgien und Frankreich immer noch ein heikles Thema, besonders an den Universitäten. Studienautoren beschäftigen sich oft lieber mit «struktureller Diskriminierung» als mit der Erforschung von extremistischen Strukturen.

Bis 2015 war die Ablehnung an den Universitäten fast total. Vor allem Linke wollten das Problem oft nicht sehen. Dabei muss man nur die Vordenker lesen, auf die sich die Frères beziehen, Yusuf al-Karadawi, Hasan al-Banna, Said Qutb und so weiter. Dann sieht man, was sie wollen. Aber es war wie bei Erdogan: Den hat man lange als islamistischen Demokraten missverstanden, als muslimischen Christlichdemokraten. Das sagten Leute, die sich nicht mit dieser Ideologie beschäftigt hatten und bloss Phrasen verbreiteten.

Forscher, die sich an den Universitäten mit Islamismus befassen, werden häufig angefeindet. Ihr pensionierter CNRS-Kollege François Burgat wirft Ihnen vor, Verschwörungstheorien zu verbreiten, die Reinheit der Nation zu beschwören und sich einer «antisemitischen Rhetorik» zu bedienen.

Burgat ist für die Frères seit Jahren ein Bruder im Geiste. Er verteidigt sie bei jeder Gelegenheit. Dass er Kritik am Islamismus der Frères mit einem rassistischen, islamophoben Diskurs gleichsetzt, ist ein klassischer Trick. Islamisten und ihre Verteidiger versuchen seit Jahrzehnten, sich die Geschichte des Antisemitismus anzueignen. Sie behaupten, Islamophobie sei der neue Antisemitismus, um sich selbst als Unterdrückte darzustellen. Dass man mir Rassismus vorwirft, bin ich gewohnt, obwohl ich überhaupt nicht rassistisch bin. Aber dass es diesmal so heftig wird, mit Morddrohungen und dergleichen, überrascht mich.

Wenn man Ihnen zuhört, erhält man den Eindruck, dass sich der Frérisme in Europa fest etabliert hat. Wie kann man ihn bekämpfen?

Er kann nur bekämpft werden, wenn wir verstehen, wie die Frères funktionieren. Es bringt nichts, sie zu verachten. Wir müssen sie verstehen, um sie nicht zu füttern, ihre Projekte zu alimentieren. Wir müssen uns deindoktrinieren, unseren Kindern beibringen, dass sie nicht schuld am Kolonialismus sind und dass man religiöse Fanatiker nicht lieben muss. Solange die EU Millionen Euro in toxische Projekte steckt und Kritiker dieser Politik als Verschwörungstheoretiker beschimpft werden, bin ich nicht sehr optimistisch. Darum habe ich mein Buch geschrieben: Es zeigt, dass die Frères einen Plan haben, den man ernst nehmen muss.

Florence Bergeaud-Blackler: Le Frérisme et ses réseaux. L’enquête. Vorwort von Gilles Kepel. Verlag Odile Jacob, Paris 2023. 400 S., € 24.90.

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