Efeu - Die Kulturrundschau

Das für immer verlorene Russland

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31.03.2023. Standard und taz sind begeistert: Herbert Fritsch hat am Burgtheater "Die gefesselte Phantasie" entfesselt. Die FAZ schwebt mit Hugo van der Goes in der Berliner Gemäldegalerie zwischen Schmerz und Seligkeit. Im Van Magazin fürchtet Gidon Kremer, dass er wohl nie wieder in Russland auftreten wird. Die FAZ bringt Vladimir Jurowskis Hommage auf Sergej Rachmaninow. Die neueste Girls Group namens Boygenius ist laut Pitchfork eine Sensation und lässt sich ihre Videos von Kristen Stewart anfertigen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.03.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Die gefesselte Phantasie" am Burgtheater in Wien. Foto: Matthias Horn.

Köstlich amüsiert hat sich Standard-Kritiker Stephan Hilpold mit Herbert Fritschs Inszenierung von Ferdinand Raimunds Stück "Die gefesselte Phantasie" am Wiener Burgtheater. Fritsch hat das Stück in gewohnter Manier mit "grellem Slapstick" angereichert, aber so anarchisch hat Hilpold das noch nie erlebt. Betört ist er vor auch von der Hauptdarstellerin: "In Gestalt von Maria Happel ist diese Hermione zum Anbeißen gut. Die Krone rutscht ihr von den Lockenwicklern, die Pausen in ihren Versen setzt sie gekonnt falsch. Mit Bless Amada als geheimem Liebhaber hat sie zudem einen Mitspieler, der mindestens genauso verstrahlt ist wie sie selbst. Mit einem multilingualen Gedichtungetüm erobert der unerkannte Königssohn ihre Hand, bevor die zwei schlussendlich der grenzenlosen Liebe huldigen." Ein bisschen wie im Drogenrausch hat taz-Kritiker Uwe Mattheis den Abend erlebt und ist noch ganz erhitzt: "Fritschs Hochtemperaturtheater gelingt es, den Zuckerguss einzuschmelzen und darin einstige plebejische Lebenslust und die natürliche Missachtung weltlicher und geistlicher Autorität freizusetzen."

Der Intendant der Staatsoper Unter den Linden, Matthias Schulz, erklärt im Interview mit der Berliner Zeitung, warum Anna Netrebko wieder an der Staatsoper singen darf: "Sie hat sich in der Zwischenzeit, soweit es ihr möglich ist, mit einem Statement von dem Angriffskrieg auf die Ukraine distanziert und vor allem ihr Handeln in den letzten Monaten war kongruent. Das war immer eine Grundvoraussetzung für eine Zusammenarbeit. Ich finde man muss dieser Künstlerin dann auch eine Chance geben. ... Ich hatte ein Gespräch mit ihr und mein Eindruck war, dass ihre Distanzierung authentisch ist und wir mit ihr als Künstlerin wieder zusammenarbeiten können."

Weiteres: Im Tagesspiegel stellt Frederik Hanssen das neue Programm der Deutschen Oper Berlin vor. Besprochen werden Elmar Goerdens Inszenierung von Maxim Gorkis Stück "Sommergäste" am Josefstadt-Theater Wien (Standard), Maud Haddons und Céline Vajens Inszenierung von Katrin Schyns' Solostück "Valeska und ihre Schritte" im Theaterhaus Frankfurt (FR) und Wang Ping-Hsiang Inszenierung von Travis Jeppesens Stück "Ghosts of the Landwehrkanal" am Berliner Ringtheater (Tsp).
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Kunst

"Die Verkündigung von Maria", Hugo van der Goes. Bild: Gemäldegalerie Berlin.

Ein Gleichgewicht von Pracht und Schönheit bewundert FAZ-Kritiker Andreas Kilb in einer Ausstellung mit Werken des flämischen Malers Hugo van der Goes in der Gemäldegalerie in Berlin. Besonders beeindruckt ist er vom berühmten Monforte-Altar des Malers: "Diese fromme Szene, die von Brokatärmeln, schimmernden Pokalen, Juwelen auf Pelzmützen, blauen Lilien und anderen burgundischen Virtuositäten strotzt, ist erkennbar das Bild eines Hofmalers. Die Heiligen Drei Könige, die zuschauenden Jünglinge, selbst die Pferdeknechte im Bildhintergrund tragen Höflingsgesichter, und wer will, kann in dem knieenden Würdenträger im Zentrum das Porträt eines allmächtigen herzoglichen Beraters wie Philippe de Crèvecœur erkennen. Dabei ist die gleißende Farbigkeit der roten, blauen und violetten Gewänder und das Braun der Pelzaufschläge so ausbalanciert, dass es nie überzüchtet wirkt." Auch im Tagesspiegel ist Nicola Kuhn beeindruckt.

Zum 50. Todestag Pablo Picassos wird gefeiert, über sein Machotum spricht niemand mehr, notiert Kia Vahland in der SZ. Sie findet das ganz in Ordnung: Die "rigide Ablehnung unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der früheren haltlosen Verehrung: beide folgen dem Mythos, den dieser Mann mit Hilfe seiner Bewunderer von sich schuf. Es lohnt ein neuer und neugieriger Blick auf Werk und Person; das Jubiläumsjahr mit seinen zahlreichen Picasso-Ausstellungen bietet die Gelegenheit dafür. Man kann die Geschichte dieses Künstlerlebens auch anders erzählen, als nur die eines Berserkers, der einmal großspurig erklärte: 'Bei mir ist ein Bild eine Summe von Zerstörungen.' Denn nicht das Zerstörende, sondern das Fragende und Suchende zieht sich durch Werk und Leben von - wie die Eltern ihn 1881 in Málaga tauften - Pablo Diego José Francisco de Paula Juan Nepomuceno María de los Remedios Cipriano de la Santísima Trinidad Ruiz y Picasso." Reinhard Brembeck schlendert für die SZ durch die Picasso-Ausstellungen in Paris.

Die neue Findungskommission für die documenta 16 ist berufen, meldet der Tagesspiegel. Und die hat was vor sich: "Denn das neue Team soll nicht bloß in die Zukunft der Documenta 16 im Jahr 2026 denken. Es soll auch hinter sich aufräumen", schreibt Christiane Meixner und warnt mit Blick auf die desaströse documenta 15: "allein der Gedanke, die kommende Documenta ließe sich losgelöst von jenem Skandal realisieren, weil fünf Jahre Zeit dazwischen liegen, wäre irrwitzig. Es wird im Gegenteil voraussichtlich noch einmal alles hochgespült, wenn in Kassel 2027 das nächst kulturellen Großereignis namens Documenta ansteht."

Weitere Artikel: Birgit Rieger stellt im Tagesspiegel Jenny Schlenzka vor, die neue Leiterin des Gropius-Baus. Anselm Kiefer hat den deutschen Nationalpreis erhalten, meldet die FR.
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Literatur

Michel Houellebecq hat in einem Porno mitgespielt, gegen dessen Veröffentlichung er sich jetzt wehrt. Dummerweise hatte er einen Vertrag mit den Filmemacher Stefan Ruitenbeek unterschrieben: "Ja, das war vielleicht das Dümmste, was ich je in meinem Leben getan habe", sagt er im SZ-Gespräch mit Andreas Tobler. "Wenn man den Vertrag liest, hat man das Gefühl, dass ein geistiger Schwachkopf das unterschrieben haben könnte. Es ist erschreckend. Aber viele unterschreiben Verträge, ohne sie wirklich zu lesen. 'Ein Tier hätte mehr Rechte', meinte meine holländische Anwältin, als sie den Vertrag las. Das ist nicht übertrieben. Es ist ein monströser Vertrag."

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt seine NZZ-Kolumne aus Charkiw fort. Besprochen wird unter anderem Susanne Klingensteins "Kulturgeschichte der jiddischen Literatur" (FR).
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Film

Claudius Seidl gratuliert in der FAZ Christopher Walken zum Achtzigsten, und er erinnert sich an die Szene zu Anfang von "The Deer Hunter", "wenn die Männer, noch in Amerika, Bier trinken und Billard spielen. Und dann kommt 'Can't Take my Eyes off You' aus den Lautsprechern, alle grölen mit und lassen sich zu einem gewissen Körperstampfen hinreißen. Während Walken einen geradezu grazilen Tanz wagt mit dem Queue und den Kugeln - es ist, als öffnete sich inmitten der proletarischen Eintönigkeit ein Fenster der Utopie. Denn dass Walken ein Tänzer ist, auch in solchen Filmen, in denen er weder singt noch sich zum Rhythmus der Musik bewegt, ist vielleicht der stärkste Reiz, den seine Performances zu bieten haben."



In der SZ gratuliert Fritz Göttler. Zu den Meldungen des Tages (hier im Tagesspiegel) gehört, dass Mariette Rissenbeek mit dem Erreichen der Altersgrenze im nächsten Jahr die Internationalen Filmfestspiele Berlin verlässt.
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Musik

Hartmut Welscher führt für das Van Magazin ein ausführliches Gespräch mit dem Geiger Gidon Kremer. Auf die Frage, ob er sich vorstellen kann, nochmal in Russland aufzutreten, sagt er: "Ganz klar: nein. Und ich glaube, das wird zu meiner Lebenszeit auch nicht mehr möglich sein. Ich bezweifle sehr stark, dass ich irgendwann noch einmal russischen Boden betreten kann. Ich bin zwar kein Russe, habe aber nach wie vor gute Freunde dort und mag die Sprache, die Dostojewski, Tschechow, Bunin, Pasternak und Brodsky sprachen."

Hier Kremer mit derm ersten Satz von Mieczysław Weinbergs Violinkonzert:



Deutschrap ist die neue Volksmusik, schreibt Victor Efevberha in der taz. Unter den Top 5 der meistgehörten Musiker in Deutschland landeten im vergangenen Jahr laut Spotify vier Rapper: Luciano, Raf Camorra, Bonez MC und Cro. Aber der Erfolg hat seinen Preis, zumal für die schmerzenden Ohren der Nichtkenner: "Viele Songs klingen mittlerweile sehr ähnlich und leicht reproduzierbar, Gangsta-HipHop vom Fließband. Die Musik klingt viel zugänglicher und erreicht ein breiteres Publikum als noch vor dreißig Jahren. Komplexe Reimketten wurden durch balladenartigen Autotune-Gesang ersetzt, der klingt, als hätte ihn sich die KI Chat-GPT ausgedacht. Klassische Vierviertel-Takte und Bassdrums statt karibischer und Afrobeatsamples. Auch in Mode ist der düstere Drillsound, ursprünglich in Chicago entstanden und in Großbritannien zum Massenphänomen geworden."

Als einen der talentiersten neuen Rapper nennt Efevberha  OG Keemo, der hier sein "Vorwort" spricht:



Sergej Rachmaninow, dessen 150. Geburtstag überall gefeiert wird, hat hierzulande oft schlechte Presse, was von den Verdikten des teilweise bis heute die Mode bestimmenden Adorno herrühren mag. Jan Brachmann macht in der FAZ nicht nur auf Rachmaninows originelle kompositorische Erfindungen aufmerksam, sondern erinnert auch daran, dass er - was ihm insgeheim vielleicht ebenfalls angekreidet wurde - vom Exil aus zu den frühesten Warnern vor Stalin gehörte, "als er zusammen mit Ilja Tolstoi 1931 in der New York Times das schreckliche 'Joch einer zahlenmäßig verschwindenden, aber perfekt organisierten Bande von Kommunisten' anprangerte, 'die mit Mitteln des roten Terrors dem russischen Volk ihre Missherrschaft' aufzwingen. Wenig später fuhr George Bernhard Shaw in die Sowjetunion und sang zur Zeit des Holodomors das Lob Stalins. Seinen Zeitgenossen Rachmaninow aber bezeichnete Shaw als 'Vulgär-Töner'."

Ebenfalls in der FAZ die schöne Hommage des Dirigenten Vladimir Michailowitsch Jurowski: "Man könnte Rachmaninow mit dem Ritter von der traurigen Gestalt - Don Quixote - vergleichen, der sein Leben dem Dienst an einem unsichtbaren, deswegen für andere wertlosen, lächerlichen Ideal widmete. Für Rachmaninow war dieses Ideal das für immer verlorene Russland seiner Kindheit und Jugend, das Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Verloren für ihn als 'weißen' Emigranten, der seine Heimat nie wieder betreten würde, auch als erwachsen gewordenen Menschen, dem das Land seiner Kindheit für immer verwehrt bleibt."



Das große neue Ding ist laut Cat Zhang von Pitchfork die feministische Super-Girls-Group, äh, Boygenius. Ihre neue Platte ist nicht nur "Best New Music", sondern ein best of des feministisch Möglichen: "Diesmal holen sich Dacus, Bridgers und Baker die besten Leute der Branche ins Boot: Melina Duterte von Jay Som am Bass, Carla Azar von Autolux am Schlagzeug, Sarah Tudzin von den Illuminati Hotties als Tontechnikerin und Catherine Marks als Koproduzentin. Die für den Pulitzer-Preis nominierte Schriftstellerin Elif Batuman schrieb den einleitenden Essay; die Oscar-nominierte Schauspielerin Kristen Stewart führte bei drei Boygenius-Musikvideos Regie."

Hier Stewarts episches Video:



Außerdem: Peter Richter erzählt in der SZ die Geschichte der "sehr Ostberliner" Band Feeling B, die ihren Vierzigsten feiert. Besprochen werden das Album "21st Century Blues" von Raye (taz)
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