Im Purgatorium des Phoenix

Rin Usamis Protagonistin muss ein Leben ohne ihr Fanobjekt erlernen

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die zeitgenössische japanische Literatur kann einige Beispiele ausgezeichneter Repräsentationen psychosozialer Problematik aufweisen: Mieko Kawakami, Hitomi Kanehara, Manˈichi Yoshimura und zuletzt Sayaka Murata sind zu nennen, wenn man sich Texte über Depression und Gruppengewalt, Selbstverletzungsimpulse, autistische Tendenzen, Wahnsinn sowie über die Denkfigur, bürgerlichen Widerstand zu einer Form psychopathologischer Erkrankung zu erklären (Yoshimura), vergegenwärtigt.

Fan sein

Rin Usami reiht sich mit Idol in Flammen in diese jüngere Tradition von Psycho-Poetologie ein. Ihre Protagonistin, die Schülerin Akari, widmet bis zum Limit Zeit, Energie und finanzielle Ressourcen dem Fan-Kult um den Rockstar Masaki. Sie bekennt: „Fan zu sein ist meine Überlebensstrategie.“ Das japanische Original Oshi, moyu erschien im Herbst 2020 im Kawade Shinsha Verlag und wurde mit dem bekannten Akutagawa-Preis ausgezeichnet – Usami ist damit die drittjüngste Preisträgerin.

Erzählt werden die Ereignisse aus der Ich-Perspektive des Mädchens. Wir erfahren von ihr, dass sie in der Spätschicht eines Lokals jobbt, um sich Merchandise-Artikel der Musikgruppe und vor allem die Spezialeditionen ihres Stars leisten zu können. Die Teenagerin erwirbt die diversen Devotionalien oft in vielfacher Stückzahl, um Masaki durch die Geldzuwendung zu unterstützen. Seit einem Jahr schon besucht sie Konzerte, durchforstet die Medien nach Berichten über ihn, macht sich Notizen zu seinen Kommentaren, schreibt einen Blog, tauscht sich per Mail mit Gleichgesinnten aus und bekennt: „Nur er bewegt mich, spricht zu mir und akzeptiert mich.“ Weiter heißt es: „Mein Idol ist meine Körpermitte, meine Wirbelsäule.“ Ihr gesamtes Dasein kreist um den jungen Sänger, zumal sie sich in der Schule wie auch in der Familie nicht richtig angenommen fühlt.

Die Last der körperlichen Existenz 

Grund für ihre Selbstverleugnung scheinen gewisse psychologische Defizite zu sein. Sie war bei der Schulpsychologin, hat dann beim Arzt zwei Diagnosen erhalten und Medikamente verordnet bekommen, die sie aber nicht nimmt. Akari leidet unter Antriebslosigkeit, was auf Depressionen schließen lässt. Zudem gelingt es ihr kaum, ihre Handlungen zielgerichtet an der Bewältigung der alltäglich anfallenden Aufgaben auszurichten, womit man im Allgemeinen Störungen aus dem Zwangsspektrum verbindet. Dazu würde passen, dass sie chronische Probleme mit Zeiteinteilung und Pünktlichkeit hat, oft Pflichten versäumt beziehungsweise Dinge nicht erledigt, leicht aus dem Konzept gerät oder Termine vergisst. Ihre Umgebung kann sie nur schlecht in Ordnung halten. Jede einfache Routine wird zur Belastung, was bereits mit dem Körperlichen und seiner Pflege beginnt: „Man muss die Gesichtsmuskeln heben, um sich zu unterhalten, sich waschen, weil der Körper Schmutz produziert, die Nägel schneiden, weil sie wachsen.“ Als bedrückend empfindet sie auch, „dass wir im Grunde dieselbe Funktion wie Tiere erfüllen“.

Familiäre Beschädigungen

Akaris psychische Auffälligkeiten ergeben sich, wie es der Text verrät, aus regressiven Tendenzen, die wiederum in der Familiengeschichte begründet sind: Der Vater ist meist abwesend und lebt beruflich bedingt im Ausland. Die Mutter zeigt sich als chronisch unzufrieden und fordernd; die elterliche Ehe hat möglicherweise keine Zukunft. Die Schwester spielt eine ambivalente Rolle im Gefüge der kleinen Gemeinschaft.

Mit dem Tod der Großmutter eröffnet sich für die Protagonistin im Verlauf der Erzählung die Gelegenheit, einen Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Diese Emanzipation von der Familie wird zum einen vom Vater eingefordert, der nach Akaris frühzeitiger Beendigung ihrer Schullaufbahn beabsichtigt, bald jede finanzielle Unterstützung seiner sich offenbar jeglicher Leistung verweigernden Tochter einzustellen. Zum anderen trägt an diesem Punkt Masaki die unerwartete offizielle Erklärung vor, seine Karriere im Showbusiness zu beenden. Nun muss die Heldin ohne ihr Idol auskommen und ihr Moratorium verlassen; eine Erkenntnis, die sie zunächst in tiefe Verzweiflung stürzt.  

Aus der Asche

Liest sich bis zu dieser Stelle das „Idol in Flammen“ – wesentlich unterstützt von der gelungenen Sprachlichkeit der deutschen Übersetzung – als originelle literarische Studie der Psychologie eines einsamen, in den zehrenden Weiten von Fanindustrie und Internet verlorenen Mädchens, tritt im letzten Teil des Werks eine Wende ein, die nicht leicht nachzuvollziehen ist: Wie ein Phoenix aus der Asche erschafft sich Akari neu. Das Idol ist ein Normalsterblicher geworden. Deshalb verlässt die Tochter einer unglücklichen Familie ihre Schutzzone, um die Aufgabe des Erwachsenwerdens eigenständig in Angriff zu nehmen. Die Verehrung des imaginierten Bildes und eine kompromisslose Loyalität weichen nüchterner Einschätzung, basierend auf Masakis Entschluss, nicht länger Objekt des J-Pop-Markts zu sein, sondern heiraten zu wollen.

Akaris Wende zum autonomen Subjekt kommt überraschend. Am Schluss des Geschehens wagt sie sogar einen Wutausbruch: Sie wirft eine Schachtel Wattestäbchen an die Zimmerwand, während sie sich zugleich fast „erwachsen“ über ihre dramatische Misere erhebt und ihr Leidenspurgatorium der Lächerlichkeit aussetzt. Zerstörung und Neuerschaffung des Selbst erscheinen nun plötzlich ein Leichtes. Indem die Autorin in den Heilungsmodus schaltet und die schöne Exzentrik der Heldin für ein Quantum Resilienz opfert, verzichtet sie auf mehr poetische Tiefe: Akari wird ganz beiläufig der Agenda der aktuell viel beschworenen psychosozialen Volksgesundheit preisgegeben. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Rin Usami: Idol in Flammen. Roman.
Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
128 Seiten, 18 EUR.
ISBN-13: 9783462003024

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