Der Ausbruch des Vesuvs löschte 79 n. Chr. eine ganze Stadt aus: Die Ruinen Pompejis erzählen auch etwas über uns

Der Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. hat Pompeji zerstört. Aber was heisst das? Der Archäologe Gabriel Zuchtriegel fragt, was man von den Ruinen lernen kann.

Hans-Albrecht Koch 4 min
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Eine Stadt, die vor fast zweitausend Jahren zerstört wurde, aber was hat das mit uns zu tun? Touristen im «Haus des tragischen Dichters» in Pompeji.

Eine Stadt, die vor fast zweitausend Jahren zerstört wurde, aber was hat das mit uns zu tun? Touristen im «Haus des tragischen Dichters» in Pompeji.

Andreas Engelhardt / dpa

Nicht allzu lange vor dem Vesuvausbruch im Jahre 79 n. Chr. hatte der Apostel Paulus im ersten Brief an die Korinther geschrieben: «Ich sterbe täglich.» Paulus war jüdischer Abkunft, aber von Jugend an mit der griechischen Sprache und Literatur vertraut. In dem Satz spiegelt sich die lange Beschäftigung der Griechen mit dem Tod seit den Dialogen Platons. Ein glückliches Leben schliesst die Aufhebung der Angst vor dem Tod ein, das lehrten vor allem die Schulen der Stoa und Epikurs.

Vor diesem Hintergrund stellt der Archäologe Gabriel Zuchtriegel auch das Ende Pompejis dar: als Ereignis, das die Zeitgenossen zwar nicht erwartet hatten, aber mit dem sie doch irgendwie gerechnet haben dürften: «Tod und Untergang Pompejis als Normalfall, als Alltäglichkeit: Jeder Tag kann der letzte sein», heisst es in seinem Buch «Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt». Der Gedanke, dass jeder Tag der letzte sein kann, war auch den frühen Christen vertraut. Freilich erwarteten sie, dass der Tod nicht nur das Ende des Lebens sei, sondern auch der Beginn des eigentlichen Lebens durch die Teilhabe an der Erlösungstat von Jesus Christus.

Zuchtriegel, der 2021, mitten in der Corona-Pandemie, Direktor des Archäologischen Parks Pompeji wurde, nimmt in seinen Betrachtungen zur Antike und zu unserem Blick auf sie oft Standpunkte ein, die von den üblichen abweichen. So bestimmt er etwa das Ausmass der Katastrophe, die über Pompeji hereinbrach, nicht an der Zahl der Opfer, die zu Tode kamen, sondern am Verhältnis der Todesopfer zur Zahl der Überlebenden.

Blanke Todesangst

Beides kann man nur schätzen. Gabriel Zuchtriegel geht davon aus, dass Pompeji im Jahr 79 n. Chr. rund 20 000 Einwohner hatte. Als Folge des Vulkanausbruchs dürften rund 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung ums Leben gekommen sein. Deutlich weniger also, als man annehmen würde. Von den 85 bis 90 Prozent der Einwohner, die das Unglück überlebt haben, ist allerdings selten die Rede. So ist der Mensch, auch der Geschichtsschreiber, eben veranlagt: Er nimmt alles Unheil wahr, aber übersieht das «Glück im Unglück», das es auch in Pompeji gab.

Darauf zielt der Untertitel des Buches ab: «Was Pompeji über uns erzählt». Das Schicksal der kaiserzeitlichen Stadt, die aufgrund einer Katastrophe für uns konserviert wurde, führt uns vor Augen, wie schnell der Mensch die eben überstandene Gefahr vergisst. Oder wie er sie schöpferisch bewältigt und in Schauspiele der Erinnerung verwandelt: zum Beispiel in einen archäologischen Park.

In die Pompeji-Forschung, die seit dem 18. Jahrhundert betrieben wird, ist in letzter Zeit wieder Bewegung gekommen. Manche für sicher gehaltene Interpretation ist durch den Einbezug naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden in die Archäologie hinfällig geworden: Drei Skelette, zwei von Erwachsenen, das dritte das eines Kindes, wurden lange als Familie gedeutet, die sich im Tod ängstlich aneinanderkauert. Die DNA-Analyse hat kürzlich gezeigt, dass zwischen den drei Opfern keine verwandtschaftlichen Beziehungen bestanden. Vermutlich handelt es sich um drei Menschen, die nichts anderes als die blanke Todesangst aneinandergekettet hat.

Beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. wurden Tausende von Menschen vom Ascheregen und heissen Gaswolken überrascht und getötet. Bei den Ausgrabungen fand man an den Stellen, wo die verschütteten Menschen lagen, Hohlräume in der gehärteten Asche. Sie wurden mit Gips gefüllt. So entstanden die Abbilder der sterbenden Menschen.

Beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. wurden Tausende von Menschen vom Ascheregen und heissen Gaswolken überrascht und getötet. Bei den Ausgrabungen fand man an den Stellen, wo die verschütteten Menschen lagen, Hohlräume in der gehärteten Asche. Sie wurden mit Gips gefüllt. So entstanden die Abbilder der sterbenden Menschen.

Zeitenspiegel/Visum

Gabriel Zuchtriegel gibt einen präzisen und packend geschriebenen Überblick über den derzeitigen Stand der Forschung zu Pompeji. Aber er tut mehr als das: Ungewöhnlich offen spricht er, der bei Antritt seines Amtes bereits ein renommierter Wissenschafter war, zum Beispiel auch über die Schwierigkeiten, die ihm italienische Kollegen mit guten Beziehungen bis in den Senat machten: Vertreter eines neuen «Ausgräbernationalismus», den man längst für überwunden gehalten hätte. Für sie war es schwer erträglich, dass die Leitung einer der wichtigsten archäologischen Stätten des Landes einem deutschen Kollegen anvertraut wurde.

Theater in den Ruinen

Der Neid der Kollegen mag wohl vor allem der Neid auf die Originalität vieler Ideen sein, mit denen Zuchtriegel Pompeji und die Arbeit seines Teams in der Öffentlichkeit bekannt macht. Allein schon mit dem Einfall, in den ausgegrabenen Theaterruinen Pompejis wieder Theateraufführungen zu ermöglichen, und dies erst noch für Schüler, hatte Zuchtriegel bei den italienischen Kollegen provoziert. Dabei erinnert diese Wiederbelebung der Ruinen auf reizvolle Weise daran, dass die ersten Ausgrabungen in Pompeji im 18. Jahrhundert mit der Freilegung der Theaterruinen begannen.

Zu den jüngsten Entdeckungen gehört ein Prunkwagen aus einer Villa bei Civita Giuliana, dessen Bergung und Präsentation besondere Schwierigkeiten mit sich bringen. Es gilt, die erhaltenen fragilen Reste aus Bronze, Eisen, Leder, Stoff und Holz für den künftigen Betrachter zu einem Ganzen zusammenzufügen und die fehlenden Teile sinnvoll zu ergänzen.

Aber wie? Im ursprünglichen Material oder in einer Form, die alles Ergänzte als Ergänztes deutlich sichtbar macht? Das ist kein rein technisches Problem. Es führt mitten in die Arbeit der Archäologen und letztlich auf die Frage, welche Aufgabe die Archäologie haben soll: Wie präsentiert sie die Resultate ihrer Forschung? Wie soll sie das Vergangene vergegenwärtigen? Kann sie das überhaupt? Was sagen die Spuren von Menschen, die vor rund zweitausend Jahren gelebt haben, über diese Menschen aus? Fragen wie diese durchziehen Gabriel Zuchtriegels Darstellung und machen aus dem lesenswerten Buch über Pompeji auch ein Buch darüber, was wir über uns selbst lernen, wenn wir uns mit vergangenen Zeiten befassen.

Gabriel Zuchtriegel: Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt. Propyläen-Verlag, Berlin 2023. 237 S., Fr. 46.90.

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