Elefanten weinen nicht

Dennis Gastmann entführt mit seinem Roman „Dalee“ ins unbekannte Indien

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor der Kulisse eines fernen Kontinents nimmt Gastmann, Autor mehrerer Reisereportagen, die von den Medien dem modernen Gonzo-Journalismus zugeordnet werden, sein Lesepublikum mit auf eine außergewöhnliche Zeitreise. Sein erster Roman spielt kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Indien, genauer: auf den Andamanen, die näher an der Küste von Myanmar und Thailand als an der Indiens liegen.   

Dalee, Namensgeber und Hauptfigur des Debüts, ist ein indischer Elefant. Seine Geschichte wird von einem kleinen Elefantenjungen, dem Sohn des Elefantenführers, eines sogenannten Mahuts, erzählt. Der Junge heißt mit Vornamen Omvishnu Nihar Anup Shivaraju Ravi Lakshman Balachandra, aber in Indien, so erfährt man, hat jeder neben dem good name auch einen call name und seiner wird aus gutem Grund im Laufe der Geschichte Bellini. Da die Männer der Familie seit 4000 Jahren mit und von Elefanten arbeiten und leben, hat Bellini nie eine Schule besucht und ist Analphabet, kennt aber zehn Wege, auf einen Elefantenrücken zu klettern. Der Elfjährige ist wie ein „Schwamm, der alles aufsaugt“, und kann später überall atemberaubende Wahrheiten und Geschichten über Dalee im Konkreten und über indische Elefanten im Allgemeinen zum Besten geben. Sie seien kitzelig, schnarchen, gähnen („atmeten die Nacht aus“), singen Wiegenlieder, können aber auch durchdrehen und dann brutal, wild und unberechenbar werden. Auch den Grund, warum Elefanten nie weinen, erfahren die Lesenden von ihm.

Bellinis Vater hatte Dalee die Angst vor dem Meer genommen und ihn zu einer wahren Wasserratte gemacht, wenn man einen mehrere Tonnen schweren Elefantenbullen so nennen darf. Im kühlen Nass ist der Dickhäuter von jeder Last befreit und lebt auf:

Wie er durch die Wellen glitt, wie er segelte, wie er seine Kreise im Wasser zog, Runde um Runde über mich hinweg. Dalee paddelte nicht wie ein Hündchen, zappelte nicht wie ein Kind […]. Er strich mit der Anmut eines Rochens über die Riffe, leicht wie eine Seefeder […].

Ursprünglich gab es auf den Andamanen, die in der britischen Kolonialzeit als übelste Strafkolonie des ganzen Reiches bekannt waren, keine Elefanten. Nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 verloren die Inseln ihren Schrecken und nur der undurchdringliche Dschungel stand nach Meinung vieler einer finanziell lukrativen Zukunft im Weg. Im Roman kommt der reiche Holzunternehmer Mister Ray, der „Mann der Wunder“, auf die Idee, den Dschungel roden zu lassen. Da dort Maschinen nicht einsetzbar sind, sollen flexible, kraftstrotzende Arbeitselefanten genutzt werden. Ray, ein rhetorisch geschickter „Menschenfänger“, wirbt erfolgreich für eine Migration: Er organisiert in Indien ein spektakuläres Elefantenrennen, dessen Sieger auf die Inseln mitkommen dürfen, mit einem Start wie beim legendären Autorennen von Le Mans – der Aufstieg auf die Tiere gehört also zum Rennen. Dalee ist alt und nicht schnell genug, aber weil sein good name Ganesh auf den übermächtigen Elefantengott verweist, sichert Ray ihm einen Platz zu. Der Mahut gibt alles für den Traum eines besseren Lebens im Schatten von Palmen auf und folgt mit Frau und Söhnen dem Hauptverdiener, denn eigentlich ist Dalee nicht nur ein Mitglied der Familie, sondern auch ihr Mittelpunkt.

Die Schiffspassage von Kalkutta auf die Andamanen ist besonders für die zwölf Arbeitselefanten eine Tortur, bei der die Mahuts jede Minute in deren Nähe verbringen und Bellini und sein kleiner Bruder faszinierende Abenteuer erleben. Doch das Leben auf den Inseln entpuppt sich als nicht weniger fordernd. Direkt am Strand beginnt die unberührte, lebensbedrohliche Natur. Während die Elefanten bereitwillig von Montag bis Freitag ihre vier Stunden Dienst tun, sofern es nicht zu heiß ist, sind die Holzfäller voller Respekt, Aberglauben und Angst. Gastmann beschreibt den Alltag als einen Kampf des Dschungels gegen die Menschen, in dem heilige Riesenbäume, giftige Pflanzen und allerlei exotische Tiere die Natur gegen die, die ihr zu Leibe rücken, verteidigen. Bellinis Angst schüren seine neuen gruseligen Bekannten, drei Ex-Gefangene – der Narbige, der Schimmelige und One-Hand-Joe – mit ihren Weisheiten, wie etwa, dass dieser Dschungel Menschen frisst. Und die Vögel? „Sie singen nicht, Junge. Sie schreien vor Angst“, setzt der Narbige noch einen drauf.

Dennis Gastmann ergänzt die wenigen historisch belegten Fakten um ausufernd üppige Beschreibungen einer unberührten Natur, die die faszinierende Atmosphäre des Romans entstehen lassen. Flora und Fauna der Inseln bieten eine unerschöpfliche Vielfalt an Gefahren, mit denen es zu leben gilt: Dasselfliegen, Kuckuckstauben, Muntjakhirsche, Riesenkrabben, die auf Palmen klettern, Kokosnüsse ernten und knacken können, der gelb gebänderte Krait, die gefürchtete two-step snake, nach deren Biss man nur noch zwei Schritte machen kann, oder Kankhajura, ein giftig beißender Tausendfüßler, sind reale Wunder der Tierwelt und verlangen den Respekt von Mensch und Tier. Was die psychoaktiven Substanzen des schmierhütigen Düngerlings oder der hochtoxische Upasbaum anrichten können, liegt allerdings irgendwo zwischen Legende und Wissenschaft.

Trotz des Zusammenlebens mit vielen Sprachen und Kulturen in Indien, das auf den Andamanen seine Fortsetzung findet, machen die indigenen Jarawa, die ungesehen durch das Dickicht schleichen, den Zugewanderten Angst. Sie sind Teil des undurchschaubaren Dschungels und nicht der Gesellschaft. Obendrein bringt der „Mann der Wunder“ auch noch wohlhabende, gebildete Gäste aus dem „Land der Automobile, Ingenieure und Kanonen“ mit Bediensteten und Mobiliar zur Durchführung seines Projektes auf das Eiland. Während der „Sahib“ mit Verbotstafeln oder strengen Regeln versucht, ganz den kolonialen Machtverhältnissen entsprechend, dem Aberglauben und den Naturgesetzen beizukommen und die Wildnis zu strukturieren, verschreibt sich seine Gattin komplett der Musik und der Malerei. Der Kunsterziehung der Inselkinder widmet die „Mistress“ ebenfalls viel Zeit und so lernt Bellini von ihr viel über ihm bis dahin unbekannte Dinge, etwa dass die Neuankömmlinge der indischen Göttervielfalt nur einen nackten, dünnen Mann an einem Holzkreuz entgegensetzen können.

Das Hauptaugenmerk Bellinis gilt aber dem alternden Elefanten Dalee. Durch die künstlerische Erziehung des Jungen angeregt, entdeckt dieser zunächst die eigene Liebe zur Kunst und fängt völlig überraschend an, mit einem Pinsel in seinem Rüssel, Kreise zu malen. Der „Große Graue“, stellt der mittlerweile Zwölfjährige fest, hat plötzlich Gedächtnislücken und findet von der Orangeninsel nicht mehr nach Hause. Ein Elefant vergisst, anders als der hiesige Volksmund behauptet, also doch. Bellini bemüht sich sein Altern mit Elefanten-Yoga, Atemübungen und Bauchmassagen hinauszuzögern und sein Wohlbefinden zu steigern. Doch seine Kunstlehrerin bittet den Jungen um sein Verständnis für den Gang der Dinge: „Das Altern ist wie die Woge im Meer, sagte sie. Wer sich von ihr tragen lässt, treibt obenauf. Wer sich dagegen aufbäumt, der geht unter.“

Die Fortführung der kolonialen Welt im Urwald kurz nach der Erlangung von Indiens Unabhängigkeit, beschrieben in der Tradition des Abenteuerromans, ist eine irritierende Lektüre. Durch die naiv-direkte Perspektive des kleinen Elefantenjungen („Der Sahib hatte so manche Uhr mit auf die Inseln gebracht, doch über Zeit verfügte er nicht.“) vermittelt sie unkritisch eine Faszination des Neuen. Die aus den Differenzen resultierenden Missverständnisse bezüglich des Volksglaubens, der Arbeitsmoral und des Arbeitseinsatzes führen wider Erwarten zu keinen größeren Konflikten, weil die gesellschaftlichen Hierarchien fortbestehen und jeder so weitermacht, wie er es gewohnt ist. Die von den Kolonisator*innen im Roman stellenweise verbalisierte, völlige Unkenntnis der Werte und Belange der Unterprivilegierten verschwindet hinter der meisterhaft erzählten Geschichte der wahren Freundschaft des kleinen Jungen zu dem großen, alten Elefanten. Die Nachricht vom letzten schwimmenden Elefanten Rajan, der 2016 mit 66 Jahren auf den Andamanen eines natürlichen Todes starb und für Dennis Gastmann zum Schreibanlass wurde, schließt eine reflektierte, postkoloniale Darstellung von gesellschaftlichen Verwerfungen nicht automatisch aus.

Titelbild

Dennis Gastmann: Dalee.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023.
416 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100908

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch