Vorworte

Wie man den Leuten richtig auf die Zehen tritt

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
18.03.2024. Seine akademische Karriere hat Jean Roscoff gründlich in den Sand gesetzt. Nun nimmt der stolpernde Antiheld von Abel Quentins Roman "Der Seher von Etampes" noch einen letzten Anlauf - und gerät dabei in einen gewaltigen Shitstorm woker Aktivistinnen und Aktivisten. Der französische Schriftsteller liefert mit diesem Buch aber wesentlich mehr ab als nur eine Polemik gegen den Zeitgeist.
Abel Quentin. Foto: privat
Albéric de Gayardon. Der Autorname könnte auf einem Band mit mittelalterlicher Minnedichtung prangen. Auf einem gesellschaftspolitischen Traktat aus der eher konservativen Ecke. Oder, in erhabener Goldschrift, als Pseudonym auf einem Buchcover, das einen Mix aus Historischem und Fantasy verheißt. Ebenso gut könnten wir uns Albéric de Gayardon auch als Romanhelden vorstellen.

So zeichnet der Schriftsteller, der diesen Namen trägt, seine Bücher lieber schlicht mit Abel Quentin. Der Vorname ist eine Abbreviatur des Taufnamens, den Familiennamen holte er sich aus Antoine Blondins Roman "Ein Affe im Winter". Sein noch wenig beachtetes literarisches Debüt gab Abel Quentin im Jahr 2019: "Sœur" erzählt die Geschichte einer zum radikalen Islam konvertierten Halbwüchsigen und verschränkt sie mit derjenigen eines alternden Staatspräsidenten. 2021 wagte er sich mit "Le Voyant d'Etampes" tief ins Minenfeld der Woke-Debatten vor; am 7. September des Jahres stand der Titel dann auf der Longlist für den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt.

Tags darauf begann im Pariser Justizpalast der stark beachtete Prozess gegen zwanzig Männer, die der Komplizenschaft oder Beteiligung an den Terroranschlägen vom 13. November 2015 beschuldigt wurden.130 Menschen starben in jener Nacht, gegen 700 weitere wurden verletzt. Unter den Pflichtverteidigern der Angeklagten: Albéric de Gayardon.

Solch ein Doppelleben wäre tatsächlich schon beinahe Stoff für einen Roman. Stattdessen kurz die Realien: Albéric de Gayardon wurde 1985 als Sohn einer festgefügten, streng katholischen Familie geboren, begann sich schon mit fünfzehn Jahren für politische Literatur zu interessieren und studierte folgerichtig an der renommierten Sciences Po in Paris. Dort fokussierte er aufs Strafrecht und wurde Stagiaire bei der Anwältin Isabelle Coutant-Peyre, die den unter dem Pseudonym "Carlos" bekannten venezolanischen Terroristen Ilich Ramírez Sánchez nicht nur vor Gericht verteidigte, sondern auch heiratete. Es folgte die Zusammenarbeit mit zwei weiteren renommierten Juristen, zwischendurch ein plötzlicher Absprung und Absturz - de Gayardon versuchte, mit wenig Erfolg, sich selbständig zu machen -, und schließlich 2014 die zweite Chance: Er wurde in ein Programm für vielversprechende junge Strafrechtler aufgenommen, in dessen Rahmen er Erfahrungen als Pflichtverteidiger sammeln konnte und dabei auch in Kontakt mit jugendlichen Konvertiten aus dem Kreis des IS kam.

Schon an der Sciences Po regte sich daneben sein literarisches Interesse. Er nahm an einem Kurzgeschichtenwettbewerb teil, später fasste er einen Roman über Maxime Brunerie ins Auge, der 2002 ein - gescheitertes - Attentat auf den damaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac verübt hatte. Aus diesem aufgegebenen Projekt wanderte das Motiv eines solchen Mordanschlags dann in Quentins Erstlingsroman, und das Thema der politischen und gesellschaftlichen Radikalisierung beschäftigt ihn weiterhin: Ihre Hintergründe und Ambivalenzen werden in "Le Voyant d'Etampes" aus anderer Perspektive und noch breiter erkundet. Den Goncourt hat er mit dem Buch zwar nicht gewonnen, wohl aber den vom Schriftsteller Frédéric Beigbeder gestifteten Prix de Flore. Laura Strack hat das auf kluge Weise quer zum Zeitgeist stehende Werk nun für Matthes & Seitz in ein Deutsch übertragen, das die klanglichen Nuancen - vom Grummeln des Ich-Erzählers bis hin zu den giftigen Spitzen der digitalen Debatte - gewandt einfängt.

Hinsichtlich der literarischen Gestaltung liegt ein merklicher Entwicklungsschritt zwischen dem noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman "Sœur" und dem "Seher von Etampes" - obwohl Quentin dank seiner juristischen Arbeit schon für den Erstling wohl fundiertere Kenntnisse mitbrachte als viele Literaturschaffende, die sich seit 9/11 auf das Thema des islamistischen Terrors eingelassen haben. So vermittelt er prägnant das Gefühl der Ermächtigung, das die neue Lehre der fünfzehnjährigen Jenny Marchand schenkt: Unscheinbar und linkisch, war sie bis dato an den Rand des munteren Treibens auf dem Schulhof verbannt, zu schattenhaft, um Opfer gezielter Schikanen zu werden, aber sich angstvoll bewusst, dass jedes falsche Wort, jedes Signal, das ihr pubertierender Körper nolens volens aussenden mochte, die Hölle des Hohns und shamings über sie bringen konnte. Die nur wenig ältere, aber wesentlich reifere Dounia, die sich ihr unverhofft zuwendet, erscheint da wie eine Lichtgestalt. Sie führt Jenny mit einem cleveren Mix aus Lässigkeit und Autorität noch an die gewaltsamsten Dimensionen des radikalen Islams heran, und unter den jugendlichen Konvertitinnen findet das Mädchen nicht nur Akzeptanz und Freundschaft, sondern auch einen Platz in der Welt und einen Blick auf dieselbe. Während die bisher nur chaotisch anmutende Realität sich plötzlich als "ein Netz aus okkulten Interessen: das System" offenbart, hat Jenny selbst "endlich ihre Clique, und was für eine: Es geht um heilige Schriften, Weltpolitik, extreme Gewalt und Klandestinität".

Quentin versucht diese Entwicklung zudem in einen weiteren gesellschaftlichen Kontext einzubinden: Während auf politischer Ebene ein hemdsärmeliger Rechtspopulist am Thron des betagten, längst aus der Zeit und der Volksgunst gefallenen Staatspräsidenten rüttelt und mit seinen Brandreden die traditionell eher zu moderaten Optionen neigende französische Wählerschaft entflammt, wird die provinzielle Lebenswelt, in der Jenny aufwächst, vom Autor behutsam ausgemessen. Das geschieht nicht ohne Humor, wenn etwa die Eröffnung eines Kebab-Stands im Städtchen mehrheitlich mit "vielsagendem Schweigen", von einem älteren Herrn jedoch mit dem Wort "Besatzung" quittiert wird - "und er wusste, wovon er sprach". Jennys Mutter wird zu Beginn auf ähnlicher Ebene eingeführt: Ihr Gefühl intellektueller Überlegenheit schöpft sie aus der gelegentlichen Lektüre von Werken Ken Folletts oder des populärwissenschaftlichen Ägyptologen und Romanciers Christian Jacq. Aber in ihrem kleinbürgerlichen Korsett kämpft diese Frau dann leidenschaftlich, von Selbstzweifeln geplagt und weitgehend allein gelassen darum, Zugang zu der zunehmend entfremdeten Jenny zu finden, die sich - in ihrer pubertären Verzweiflung ebenso wie im bitteren Hochgefühl ihrer neu gewonnenen Überzeugungen - hinter der Tür ihres Zimmers verbarrikadiert.

Bei der Charakterisierung seiner Protagonistin hätte sich Quentin noch mehr auf die nur en passant markierten Züge verlassen dürfen, mit denen er Jenny Individualität und ein Gesicht verleiht - eines, dem sogar die klaren grauen Augen, das eine Geschenk, das die Natur dem Mädchen mitgegeben hat, keinen besseren Dienst leisten können, als "das verpfuschte Bild auszuleuchten und durch den Kontrast seine Unzulänglichkeiten noch hervorzuheben". Doch neben solch fein- und scharfsinniger Detailarbeit zieht er beim Ausgestalten der Figur auch konventionellere Mittel bei, die das Porträt eher verflachen lassen: so etwa die bis zum Romanende bemühten Verweise auf die Harry-Potter-Traumwelt, in die sich Jenny flüchtet. Ja, pubertierende Mädchen neigen zu solcher Schwärmerei; aber das zunehmend strapazierte Seelenpflaster deckt sich immer weniger mit den Rissen und Schwarzen Löchern, die sich im Inneren der Heranwachsenden auftun. Auch die finale Engführung der beiden Erzählstränge - Jenny erschießt am Ende den amtierenden Präsidenten - wird mit Fingerzeigen inszeniert, die konstruiert wirken und erzählerisch nicht notwendig sind. Das bedauert man umso mehr, als der Moment, da die junge Frau und der alte, beinah erblindete Staatsmann sich dann von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, nochmals einen irren, erschütternden Blitz der Hoffnung durchs Geschehen jagt.

Was ihn im Blick auf seinen zweiten Roman besonders interessiert habe, sagt Abel Quentin in einem Interview mit dem Online-Magazin Le Comptoir, seien die Widersprüche, die sich hinter dem politischen Engagement verbergen können. "Die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu belügen, eine Erzählung zu schaffen, die seine Entscheidungen aufwertet, ist eine unerschöpfliche Quelle des Staunens. Die Kluft zwischen dieser Erzählung und den unbewussten oder weniger redlichen Motivationen gewinnt noch an Bedeutung, wenn das Engagement zudem symbolische Vorteile verschafft: Das war bei der Linken der Fall, solange sie die kulturelle Hegemonie innehatte."

Ansätze zu einer derartigen Erkundung finden sich schon in "Sœur", auch wenn sie im Rahmen, den das Bewusstsein einer so jungen Hauptfigur setzt, noch nicht als vertiefte Reflexion ausgetragen werden kann. Stattdessen inszeniert sie Quentin dort als innere Spaltung zwischen Chafia - so wird die Protagonistin in ihrem islamistischen Zirkel genannt - und Jenny: ein Konflikt, der akuter und schmerzhafter wird, je weiter das Mädchen den einsamen Weg zum Mordanschlag geht. Alles, denkt sie einmal, wäre leichter, als "so hart, so fratzenhaft, so allein, so Chafia zu sein".

Mit 65 Jahren Lebenserfahrung und einer akademischen Laufbahn im Rücken ist Jean Roscoff, der Ich-Erzähler im "Seher von Etampes", ungleich besser aufgestellt, um die Fragen anzugehen, die seinen Schöpfer umtreiben. Ihm ist klar, dass er auch mal "gegen mich selbst andenken" muss - denn weiß der Himmel, das tut not im Blick auf sein von Irrtum und Misserfolgen überwuchertes Leben.

1960 geboren, hat Roscoff zwar den Aufbruch der Achtundsechziger verpasst, sich als junger Mann aber allemal an der Neige jener Jahre berauscht. Als Höhepunkt seines Lebens gilt ihm das große Konzert auf der Place de la Concorde, das die (real existierende) Organisation SOS Racisme am 15. Juni 1985 organisiert hatte; er war Mitglied der von linken Kreisen gegründeten Gruppierung und schlug derweil, von schrankenlosem Selbstbewusstsein erfüllt, beim Studium jedes Vernunftgebot mit Wonne in den Wind. Also: Eine Dissertation über den Kommunismus in den USA anpacken, auch wenn mit dem Nischenthema nirgends, absolut nirgends Staat zu machen ist. Einen kulanten linken Doktorvater wählen - der sich dann allerdings als rabiater Antizionist und damit als ziemlich toxisch für seine Zöglinge entpuppt. So versucht Roscoff den Neustart, diesmal mit prominenter Materie aus der McCarthy-Ära. Eine Studie über den Prozess gegen Ethel und Julius Rosenberg soll es sein, und zwar nicht als schwerfällige akademische Abhandlung verfasst, sondern als handliches Buch fürs breite Publikum, denn "ich wollte kein Universitätsprofessor sein. Ich wollte Millionär sein." Doch unmittelbar nach Erscheinen des Bandes werden bisher geheime Akten der CIA veröffentlicht, die Roscoffs Darstellung weitgehend über den Haufen werfen; im geballten Hohn der Kritiker geht unter, dass seine Kernthese dennoch Gültigkeit hatte. Roscoff hat ausgeträumt. Den Rest seines Berufslebens wird er damit verbringen, vor zunehmend desinteressierten Studierenden über die Zeit des Kalten Krieges zu referieren.

Der Lebensabriss dient nicht nur der Charakterisierung des Protagonisten und der Vorbereitung auf eine explosive Überraschung am Ende des Romans, sondern auch der kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der französischen Linken. Roscoff unterzieht die eigenen Motive für sein Engagement bei SOS Racisme einer gründlichen Prüfung, zupft dabei auch weniger edle Antriebe - etwa die Hoffnung, hübsche Mädchen sonder Zahl flachlegen zu können - hervor. Er spricht sich aber zumindest vom eigentlichen Sündenfall der Organisation frei, dem Kalkül mit der politischen Karriere, das den Aufstieg vieler Linker in der Ära Mitterrand einleitete. "Auf unseren jugendlichen Gesichtern", heißt es etwa, habe sich gelegentlich schon "das mitterandsche Lächeln" abgezeichnet, das "welke und uneindeutige Grinsen eines Spitzenmanns"; diese Linke, scheinbar so frisch und frei, habe Narzissmus und Selbstgefälligkeit "wie unsichtbares Gift" im Blut getragen.

"Mit mir war es anders", behauptet Roscoff, denn er hat der "Familie", wie er die Bewegung nennt, freiwillig den Rücken gekehrt. Faktisch aber tat er das lediglich, weil seine eigenen Erwartungen unerfüllt blieben. Niemand war ihm beigesprungen, als sein Rosenberg-Buch von der Rechten durch den Dreck gezogen wurde. Und während sein bester Freund und Weggefährte Marc aufgestiegen ist und inzwischen als Inhaber einer Anwaltskanzlei Millionen scheffelt, hat die "Familie" dem Protagonisten, wie er gekränkt vermerkt, "nichts gegeben. Zweifellos hatte ich mich ungeschickt angestellt, zweifellos hatte ich die Dinge ungeschickt eingefordert". Aber: Erwartet und gefordert hat er, wie die anderen auch.

Nun, am Ende seiner glanzlosen Karriere, gibt er sich nochmals eine Chance. Den Ruhestand will er nutzen, um die Fährte eines Mannes aufzunehmen, der bei seinen Recherchen zum Kalten Krieg und der McCarthy-Ära mehrfach schattenhaft am Rand auftauchte. Robert Willow heißt er: ein amerikanischer Jazztrompeter und Dichter, der wegen seiner Affinität zum Kommunismus ins Visier der US-Behörden geriet und deshalb nach Paris emigrierte. Dort fand er Zugang zu Sartres illustrem Zirkel - und kam vom Regen in die Traufe: "Wenn Jean-Paul Sartre jemanden auf den Index setzte, kam das den Maßnahmen des Komitees für unamerikanische Umtriebe durchaus gleich." (Leider stolpert die deutsche Ausgabe just an dieser pikanten Stelle. Dort liest man: "Dass Jean-Paul Sartre mehrfach auf den Index gesetzt wurde, stand den Maßnahmen des Komitees für unamerikanische Umtriebe nämlich in nichts nach.") Aber nicht diese erschreckende Symmetrie zwischen Machtapparat und Avantgarde ist es, die Roscoff anzieht, sondern vor allem der ungewöhnliche Ausweg, den Willow wählte. Er verabschiedete sich aus dem Kreis der Existenzialisten und zog sich ins ländliche Etampes zurück, um dort Liebesgedichte nach Art der mittelalterlichen Minnesänger zu verfassen. Es sind "Kleinode von unbewegter Reinheit", nach denen Quentins umgetriebener Protagonist nun begierig greift; mit einem eigenen Buch will er auch eine breitere Öffentlichkeit ans Leben und Schaffen des früh verstorbenen und längst in Vergessenheit geratenen Lyrikers heranführen.

Er tut dies, wie es sein eigenes, durch das Engagement gegen den Rassismus geformtes Bewusstsein nahelegt: auf Augenhöhe und indem er sein Gegenüber aufgrund von dessen lyrischem Œuvre buchstäblich "beim Wort nimmt". Die Lebensgeschichte des Dichters recherchiert er, so gut es die flüchtigen Spuren zulassen. Dass er Afroamerikaner war, geht in Roscoffs Darstellung ein, aber eher sekundär, wie es auch aufgrund von Willows Selbstverständnis geboten scheint: Er hat diese Tatsache in seinem Schaffen nie thematisiert.

Entspräche dieser Blick, wertschätzend und von Mensch zu Mensch, nicht genau dem Ideal, das der Antirassismus anstrebt? Nicht - und das wird Roscoff zum Verhängnis - in einer Zeit, da sich das Spektrum der Identitäten immer rasanter, immer militanter ausdifferenziert; da Verstöße gegen dieses Gebot der Stunde im Internet umgehend Verbreitung finden und entsprechende Reaktionen entfesseln können. All diese Entwicklungen hat Quentins Protagonist (der im Lebensfrust auch öfter zur Flasche greift, als ihm guttut) verschlafen und verpasst, bis ihm die neue Wirklichkeit in Gestalt eines gewaltigen Shitstorms um die Ohren fliegt. Arroganz, Rassismus und kulturelle Aneignung werden ihm vorgeworfen, letzteres ein Begriff, von dem er noch nie gehört hat.

Quentin schildert das mit Gusto, schließt den "woken" Zorn kurz mit Gegenattacken aus konservativen bis rechtsradikalen Kreisen, die Roscoffs Position nur noch mehr untergraben. Manchmal wird der Text etwas papieren, etwa in Passagen, wo Roscoffs Tochter Léonie und deren militant feministische Partnerin Jeanne ihm die Intersektionalität erläutern müssen oder der Protagonist selbst mithilfe des Internets die neue Denkungsart zu entschlüsseln sucht. Aber die Dynamik eines solchen modernen Schauprozesses, der, von einem obskuren Blog ausgehend, zunächst die digitale Community und bald auch die Leitmedien ergreift und dann ebenso unvermittelt in sich zusammensackt - die zeichnet Quentin nicht nur mit Brio, sondern auch mit Farben- und Facettenreichtum nach. Zur Pikanterie des Szenarios trägt nicht zuletzt die Tatsache bei, dass es zuallererst Willow war, der sich mit seiner Adaptation provenzalischer Liebesdichtung eine kulturelle Aneignung leistete.

Als Fahnenträger rechtskonservativer Wokeness-Kritiker lässt sich Abel Quentin nicht einordnen. Auch wenn er die Bewegung kritisch betrachtet, liefert er keine simple Polemik ab. Vielmehr legt er seinen Helden bewusst und konsistent als Kippfigur an, und genau in dieser scheinbaren Schwäche liegt die Stärke des Charakters und damit letztlich des Romans. Immer wieder stolpert Roscoff über die eigenen Füße: So schlägt der Versuch, seine Position gedanklich zu rechtfertigen, in eine imaginäre Hasstirade gegen eine schwarze Aktivistin um, und handkehrum findet er sich in genau der rassistischen Schmuddelecke wieder, der er entkommen wollte. Dass er den arrivierten Marc mit einer Mischung aus Verachtung und Neid beäugt, hindert ihn nicht daran, immer wieder bei ihm Schutz und Rat zu suchen - wobei sich der andere als großzügiger und loyaler Freund entpuppt. Gerade diese Ausrutscher verleihen Roscoffs Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist Glaubwürdigkeit; ebenso die Tatsache, dass er das "gegen mich selbst andenken" tatsächlich praktiziert - oft mit gesalzener Ironie, wenn er etwa erwähnt, wie er während einer Grundsatzdiskussion mit Léonie versucht, "das Gespräch auf mein Lieblingsterrain umzulenken: mich". Dieses Eingeständnis rührt zudem tiefer, als es der saloppe Ton verrät, denn im Innersten vergöttert Roscoff seine sanfte, friedfertige Tochter, doch ohne dass er diese Liebe auszudrücken vermag.

Interessant ist dieses Charakterbild auch im Vergleich mit Teju Coles im voraufgehenden "Vorwort" vorgestelltem Roman "Tremor". Dort begegnet man einem Protagonisten, der mit einem geeichten moralischen Kompass in der Hand und weitgehend ohne Selbstzweifel durchs Geschehen schreitet; ob dieses Bild bestehen bleiben oder hinterfragt werden soll, überlässt der Autor der Leserin, dem Leser. Eine noble, aber auch etwas kühle Lösung - während man sich von Abel Quentins stolperndem Helden unwillkürlich mitziehen lässt.

Die verbindliche moralische Instanz bleibt übrigens auch im "Seher von Etampes" nicht außen vor, aber der Autor hebt sie geschickt aus dem Geschehen heraus: Es ist Albert Camus, der 1948 in seiner Rede "Der Zeuge der Freiheit" von einem "Jahrhundert der Polemik und der Beschimpfung" gesprochen und gefragt hatte: "Aber nach welchen Gesetzen funktioniert diese Polemik? Ihr Kennzeichen ist, den Gegner als Feind zu betrachten, ihn damit auf einen einfachen Begriff zu bringen und sich zu weigern, ihn zu sehen. Wenn ich jemanden beschimpfe, dann achte ich nicht mehr auf seine Augenfarbe, nicht darauf, ob er lächelt und auf welche Weise. Von der Polemik zu drei Vierteln blind gemacht, leben wir nicht mehr unter Menschen, sondern in einer Welt der Schatten." Worte, die in der digitalen Ära noch gültiger, noch dringlicher sind als zu der Zeit, da sie gesprochen wurden.

Abel Quentin: Der Seher von Étampes
Roman
Aus dem Französischen von Laura Strack. Matthes & Seitz, Berlin 2024.  350 Seiten, gebunden, 28 Euro.

Erscheint am 28. März 2024

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