Ermittlungen im Schatten von Adolfs fröhlichem Winken

Mit „Paris Requiem“ setzt Chris Lloyd die Reihe seiner historischen Kriminalromane um den Pariser Polizeiinspektor Ėdouard Giral fort

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem ersten Roman Die Toten vom Gare d’Austerlitz rrund um den Pariser Polizeiinspektor Ėdouard Giral hat der heute als Übersetzer und Schriftsteller in South Wales lebende Chris Llloyd 2021 für Furore gesorgt. Das Buch, dessen Handlung in der ersten Woche nach der deutschen Besetzung von Paris im Juni 1940 angesiedelt ist, wurde nicht nur mit dem Preis der Historical Writers Association ausgezeichnet, sondern ermöglichte es seinem Autor durch den Verkaufserfolg auch, sich fortan mehr aufs Schreiben zu konzentrieren. Auf den erfolgreichen Erstling folgte rasch ein im September 1940 spielender Fortsetzungsband.

Drei Monate sind vergangen, seitdem an allen öffentlichen Gebäuden in Paris Hakenkreuzfahnen hängen. Längst stellt „Adolfs fröhliches Winken“, wie Lloyds Protagonist im Geheimen den Hitlergruß nennt, nichts Ungewöhnliches mehr für die Einheimischen dar. Man hat sich an die neue Situation gewöhnt, an fremde Uniformen in den Straßen, nervtötende Ausweiskontrollen und die Sperrstunde, die das turbulente Nachtleben von vor dem Krieg in versteckte Kaschemmen verdrängt hat, wo dubiose französische Unterweltler mit beutegierigen Deutschen kungeln. Als Giral deshalb eines Tages vor einem Toten steht, dem der Mund mit einem groben Faden zugenäht wurde und der vor oder nach dieser scheußlichen Prozedur offenbar erstickt wurde, versucht er auch in diesem Fall, so gut wie möglich seine Polizeiarbeit zu tun.

Der Inspektor kennt den brutal Getöteten, weil er ihn vor Monaten selbst nach Fresnes, einem riesigen Gefängniskomplex wenige Kilometer südlich der französischen Hauptstadt, gebracht hat. Allerdings sollte Julot le Bavard, wie man den Burschen in seinen Kreisen nennt, noch eine Weile hinter Gittern verbleiben. Wem der Mann seine plötzliche Freiheit verdankt und warum er, kaum auf freiem Fuße, auf bestialische  Weise getötet wurde, ist eine Frage, der auf den Grund zu gehen Giral nicht nur erneut mit unterschiedlichen deutschen Behörden in Konflikt bringt, sondern ihn auch zunehmend um das eigene Leben fürchten lässt. Denn schnell ist zu ahnen, dass die gut 30 Kriminellen, die gemeinsam mit Julot le Bavard die Gefängnistore hinter sich gelassen haben, das nicht ohne die Mitwirkung einflussreicher deutscher Amtsträger tun konnten. Und Giral ist nur zu bewusst, dass er auch diesen Fall nicht ohne die Unterstützung der verhassten Besatzer lösen können wird. Aber wem darf er bei seinen sensiblen Nachforschungen wirklich vertrauen?

Dabei hat sich für Lloyds nicht unsympathischen Helden seit seinen Ermittlungen im Fall  der vier in einem Eisenbahnwaggon mit Gas ermordeten Polen am Gare d’Austerlitz wenig geändert. Nach wie vor kann er kaum einen Schritt tun, ohne dass der deutsche Wehrmachts-Major Hochstetter – so gebildet wie gefährlich und durchtrieben –, der ihn damals schon nicht aus den Augen ließ,  darüber informiert ist. Und dass er bei der mehr und mehr offen in Paris operierenden Gestapo alles andere als einen Stein im Brett hat, ist ihm ebenfalls schmerzhaft bewusst.

Doch wenigstens scheint es ihm gelungen zu sein, seinen Sohn Jean-Luc, um den er sich im Vorgängerband große Sorgen machen musste, aus der Schusslinie der Deutschen zu bringen. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem ihm eine geheimnisvolle Frau ein Foto aus einem Pyrenäen-Städtchen vorlegt. Darauf ist der junge Mann zu sehen – leider aber auf der falschen Seite der Grenze, also nicht außer Gefahr. Und sollte Girard nicht aufhören, dem Rätsel der vor ihrem Haftende aus dem Gefängnis freigekommenen Männer aus allen Stadtteilen von Paris nachzuforschen, wird ihm angedroht, seinen Sohn dafür mit dem Leben bezahlen zu lassen.

Allein wer Eddie Giral aus Band 1 der Reihe noch in Erinnerung hat, weiß, dass der, ist er erst einmal an einem brisanten Fall dran, nicht so schnell wieder locker lässt. Und so kommt er auch diesmal, begleitet von seinem neuen Co-Ermittler Boniface, einem Dampfplauderer, dem keine Frau zu widerstehen vermag, immer näher an eine gefährliche Verschwörung heran, bei der sich einheimische Kriminelle und deutsche Besatzer gemeinsam die Taschen füllen.

Allerdings muss er auf der Hut sein. Denn nicht nur seinem Sohn droht Ungemach. Auch die schwarze Nachtklubsängerin Dominique, die Giral aus seiner Rausschmeißer-Zeit kennt und liebt, sorgt sich um ihren Jungen, der als Mitglied einer das französische Heer unterstützenden senegalesischen Militäreinheit in der Nähe der Somme in deutsche Gefangenschaft geraten und seitdem spurlos verschwunden ist, und bittet den Inspektor, ihr zu helfen. Und schließlich ist da noch Dédé, Sohn eines der Kriminellen, die aus Fresnes freigekommen sind. Er scheint mehr darüber zu wissen, wer hinter der Befreiungsaktion steckt und wozu es die fast 30 Kriminellen braucht, die plötzlich wieder die Straßen und Plätze von Paris unsicher zu machen beginnen. Aber droht dem jungen Mann, wenn er Giral die Wahrheit sagt, nicht ein ebenso grausamer Tod wie der von Julot le Bavard?   

Paris Requiem verbindet auf stilsichere Weise eine spannende Handlung mit einem einprägsamen Bild der Zeit, in der Lloyd seine Geschichte angesiedelt hat. Gemeinsam mit Eddie Giral taucht man ein in eine Welt, in der jeder falsche Schritt auch schon der letzte sein kann. In der niemand wirklich weiß, wem er Vertrauen schenken darf und wem gegenüber er lieber zurückhaltend sein sollte. In der über Nacht aus Freunden Feinde und aus Feinden Freunde werden können. In der sich seltsame Allianzen mit Menschen bilden, vor denen man eigentlich auf der Hut sein müsste. Und in der es gelegentlich sogar ratsam sein kann, Unrecht zu tun, nur damit das Recht eine Chance erhält.

Es ist ein gefährliches Spiel, auf das sich Chris Lloyds Held einlassen muss, ein Spiel, an dessen vorläufigem Ende – in nachgestellten „Anmerkungen des Autors“, die auch interessante Auskünfte über das Verhältnis von historischer Wahrheit und künstlerischer Erfindung in diesem Roman geben,  kündigt Lloyd weitere Abenteuer seines Protagonisten an – freilich bei Weitem nicht alles so gut ist, wie es sich Eddie Giral und die wenigen Menschen, denen er vertraut, wohl wünschen würden.     

Titelbild

Chris Lloyd: Paris Requiem. Kriminalroman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
446 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518473733

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