Die Welt als Wille und Wurmloch

Emma Braslavskys Roman „Erdling“ ist weit mehr als ein fantastischer Roman über deutsche Science Fiction

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn eine eine Reise macht, dann kann sie was erzählen, weiß der Volksmund. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um eine Zeitreise handelt, die zudem nicht nur durch das Sonnensystem (und darüber hinaus), sondern auch durch die deutsche Science Fiction-, Ideen- und Mentalitätsgeschichte führt.

Andreas Emma von Erdling war eine solche Reise vergönnt und nun sind ihre Erlebnisse in einem Buch nachzulesen. Dabei hat sie bis vor kurzem noch ein eher ruhiges Leben als Berliner „Langzeit-Studentin“ und einigermaßen erfolgreiche Influencerin geführt. Das schöne Influencerinnendasein fand ein abruptes Ende, als sie ein unerwarteter Shitstorm ereilte. Das war allerdings nicht weiter tragisch. Denn sie muss ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten, wird sie doch finanziell von ihrer Großtante Klara über Wasser gehalten, die ehedem als Professorin der Philosophie mit dem Fachgebiet Logik reüssierte. Nicht etwa aus finanzieller Not, sondern eher aus einer Laune heraus eröffnet die zwar als Mädchen geborene, von ihren Eltern jedoch als Andreas erzogene Protagonistin ein Detektivbüro, ohne allerdings zu erwarten, dass jemals ein Klient oder eine Klientin ihren Dienst in Anspruch nehmen wird. Genau das Unerwartete geschieht jedoch. Denn eines Tages steht kein anderer als Oskar Lafontaine in ihrem Büro und erklärt Erdling, Sahra Wagenknecht sei entführt worden. Und zwar von Außerirdischen, wie er ihr versichert. Das ist umso unglaublicher, als doch „die Deutschen offenbar die Einzigen auf diesem Planeten“ zu sein scheinen, „die nicht von Aliens entführt werden“.

Nun zählen Entführungen durch Aliens schon lange zu den gängigen Themen von SF-Geschichten. So wie Braslavsky hat allerdings noch niemand über ein solches Ereignis geschrieben. Dabei steht die Entführung der Politikerin noch nicht einmal im Mittelpunkt. Zwar wird die Handlung von der Suche nach der Entführten vorangetrieben, dennoch ist sie eher von randständiger Relevanz. Viel wichtiger als diese ist eine mit ihr verbunden Art Quest durch die Psyche der Deutschen und ihre Mentalitäts- und Ideengeschichte vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hinein in die Nazizeit, wie sie sich in den von Außerirdischen und fremden Planeten handelnden Zukunftsromanen dieses Zeitraums widerspiegeln.

Nicht lange nachdem die Protagonistin Lafontaines Auftrag, seine Ehefrau zu finden, angenommen und dafür einen üppigen Vorschuss erhalten hat, stirbt ihre Großtante und mit ihr auch die Logik. Das tut dem in mancherlei Hinsicht fantastischen Roman, der die „Zone der deutschen Vernunft“ schnell verlässt, allerdings keinen Abbruch. Im Gegenteil. Denn er führt seine Protagonistin in die SF-Welten einschlägiger SchriftstellerInnen, die bis auf eine Ausnahme tatsächlich Schriftsteller sind.

Das ist nicht nur aus Gründen der Geschlechterparität bedauerlich, sondern vielleicht mehr noch, weil manche der absenten Autorinnen Andreas Emma Erdling einige originelle Reiseerlebnisse hätten bescheren können. So etwa, wenn sich die Protagonistin 1871 der englisch/deutschen Reisegesellschaft angeschlossen hätte, die von der unter dem Pseudonym Moderatus Diplomaticus publizierenden Hamburgerin Marquesa Emilia Bufalo della Valle per „Luftballon-Rundschiff“ zum Mond befördert wurden und dort eine Audienz bei dem Herrscher des Erdtrabanten erhielten. Noch weit interessanter hätte sich allerdings ein Besuch bei den von Helene Burmaz 1919 erdachten Marsbewohner[n] gestaltet. Und selbst Marga Passons Rote[r] Stern von 1921 wäre der Erwähnung wert gewesen, wenngleich in dem Roman weder Außerirdische vorkommen, noch ein fremder Himmelskörper aufgesucht wird. Dafür sucht ein solcher die Erde auf und heim. Vor allem aber erstaunt, dass Thea Harbous berühmter Frau im Mond (1927) kein Besuch abgestattet wird.

Andreas Emma Erdling wird hingegen eine Frau namens Angelika als Reisegefährtin zur Seite gestellt, die allerdings ganz offenbar selbst nicht von dieser Welt ist. Die gemeinsame Suche der beiden Raumzeitreisenden nach der mutmaßlich in andere Sphären gekidnappten Kommunistin führt die beiden zu so ziemlich allen deutschen SF-Autoren von Rang und Namen und in die von ihnen erdachten solaren und exoplanetarischen Welten. So natürlich auch zu dem „notorische[n] und für seine Zeit typische[n] Witzemacher“ Kurd Laßwitz und seinen in strikter Geschlechterhierarchie lebenden „Martier“, deren führende „Numen“ dessen ungeachtet mit dem Doppelpunkt gendern. Auch zu Friedrich Wilhelm Maders so anders gearteten „Marsiten“ führt die Suche nach Sarah Wagenknecht. Als Erdlings fast ständiger Begleiter kristallisiert sich jedoch ein anderer (SF-)Autor heraus: Hanns Heinz Ewers. Aber auch Thomas Mann bekommt regelmäßige Auftritte, die auch schon einmal mit mäandernden Satzschleifen garniert werden. Überdies begegnen Emma und Angelika Vicki Baum, „deren Ironiebegabung vor allem von den deutschen Kulturbiedermännern und -frauen nicht verstanden wurde“, Erich Mühsam, den „Erzfeinde[n] Tucholsky und Reimann“, Alfred Döblin, Else Lasker-Schüler, dem „Publizist und Zionist Davies Trietsch“, Magnus Hirschfeld, Rudolf Johannes Schmidt, über den „es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag [gibt]“ und etlichen anderen mal mehr mal weniger bedeutenden Personen der deutschen Literatur-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Erwähnung finden zudem Kunstrichtungen wie der Futurismus oder der Dadaismus, aber auch ein Münchner Kabarett und sogar Philosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel und der Königsberger Weltweise und Alleszermalmer Immanuel Kant mit seinem „beinah lyrischen Darwinismus zu außerirdischer Intelligenz“. Da wundert es nicht, dass gelegentlich die eine oder andere erkenntnistheoretische Überlegung angestellt und auf diesen oder jenen antiken Griechischen angespielt wird wie etwa auf den lachenden Demokrit und seinen Konterpart, den ebenfalls materialistischen, aber weinenden Heraklit.

Bei all dem sticht ins Auge, dass sich die Autorin nicht nur in die Geschichte auf fernen Planeten spielender deutscher Zukunftsromane des Kaiserreichs und der Weimarer Republik eingearbeitet hat, sondern auch in einige Teilgebiete der Philosophie(-geschichte) und der Physik, namentlich der Astro- und Quantenphysik.

Ausgehend vom Niederschlag der deutschen Mentalität in SF-Geschichten des ausgehenden 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bietet der Roman alles in allem ein ebenso originelles wie unterhaltsames und buntes Kuriositätenkabinett mit zahlreichen skurrilen Ideen, die aus einem guten Schuss Philosophie, Wissenschaft, Esoterik und Science Fiction zusammengebraut sind und (schein)logisch plausibilisiert werden. So wird etwa von einem Außerirdischen genauestens dargelegt, warum es „ein völlig unhaltbarer Satz“ ist, „dass eine Lüge falsch sei“: „Fakten sind Wirklichkeit gewordene Wahrscheinlichkeiten, aber nur minimal und rein rechnerisch wahrer als erdichtete Wirklichkeiten“.

Die Lesenden halten also beste Science Fiction, randvoll mit Anspielungen und Zitaten (nicht nur) aus der Hochkultur in Händen, was auch schon einmal dazu führen kann, dass jemandem „der Himmel auf den Kopf [fällt]“. Das alles ist mit Humor und großem Wortwitz (inklusive neuer Wortschöpfungen wie „Begriffskarzinom“ oder „geblechmeiert“) erzählt, was für sich genommen schon großes Vergnügen bereitet. Gelegentlich lässt die Autorin sogar Lebensweisheiten einfließen, die etwa besagen, dass die „meisten Beziehungen“ schließlich in eine „sexfreie Kumpelphase“ übergehen, jedenfalls „wenn es gut gelaufen ist“. Auch lässt sich erfahren, was „in diesem Universum die größte Herausforderung“ ist. Worin sie besteht, sei hier allerdings ebenso wenig ausgeplaudert wie der Aufenthaltsort der Gesuchten. Die Protagonistin bewältigt die besagte Herausforderung aber jedenfalls nur mit recht mäßigem Erfolg.

Titelbild

Emma Braslavsky: Erdling.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
500 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431016

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