Historischer Roman mit Zeitreisen zur progressiven Verwirrung

„Die fernere Zukunft“ als sprachliches Kunstwerk und Leseereignis

Von Marcel BaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Baumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Adam Thirlwells Roman Die fernere Zukunft wurde vor der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung mit sehr vielen Vorschusslorbeeren ausgestattet. Große Namen wie Daniel Kehlmann oder Salman Rushdie übertrafen sich mit Lob: „Der beste Roman seit vielen Jahren“ (Daniel Kehlmann) und ein „brillanter Roman, anders als alles andere, was Sie in diesem Jahr lesen werden“ (Salman Rushdie). Dadurch wurde die Latte für die (fernere) Literaturkritik entsprechend sehr hoch gelegt. Doch Thirlwell hat die Latte nicht gerissen.

Sein Roman ist ein literarisches Kunstwerk geworden: Eine toxische Mischung aus progressiver Verwirrung durch Zeitreisen, Intrigen und Zustände, die im Mantel eines historischen Romans dahergelaufen kommen. Zum Gelingen des (Kunst-)Werks beigetragen hat auch die beeindruckende und exzellente Übersetzung von Jan Wilm.

Thirlwell führt uns zurück in das 18. Jahrhundert. Aber gleich hier beginnt die Verwirrung: Führt er uns wirklich in die Vergangenheit oder vielmehr in die Gegenwart? Denn es wird ein durchgängiges Thema im ganzen Roman bleiben, was ich als „progressive Verwirrung“ bezeichnen möchte: Die Beschreibungen der Vergangenheit werfen ein deutliches Licht auf die Beziehungen, Ereignisse, Zustände der Gegenwart. Die progressive Verwirrung ist wie ein Leitfaden: Was ist Geschichte und was Fiktion? Was ist Gegenwart und was ist Zukunft? Liegt die Zukunft in der Vergangenheit? In der Tat hat unsere Gegenwart mit der Französischen Revolution begonnen.

Im Mittelpunkt steht die Hauptfigur Celine. Celine muss mit Schrecken erfahren, dass ein Unbekannter pornografische Pamphlete über sie veröffentlicht. Leider rümpft die interessierte Öffentlichkeit die Nase über die Pamphlete, die frei erfunden sind. Nach und nach kursieren immer ungeheuerlichere Geschichten über Celine: über ihr Liebesleben, ihre Süchte, über Orgien und Perversionen aller Art, die sie vermeintlich auslebt. Celine kann überhaupt nur dadurch überleben, weil sie Martha an ihrer Seite hat, ihre beste Freundin. Martha ist erbarmungslos und anspruchsvoll. Celine ist auf der Flucht aus der Welt: Sie möchte in der Welt der Schriftsteller – der Künstler mit Worten, die so viel Macht haben – ankommen. Deshalb organisiert sie „Partys“, auf denen Schriftsteller zu ihr nach Hause kommen sollen.

Celine begibt sich in einer Zeit voller Aufruhr und Unbestimmtheit auf eine delikate und schwierige Mission: Sie muss ihren guten Ruf retten, muss aber zuvor Gerechtigkeit, Wahrheit und Schönheit unter die Menschen bringen. Die ganze Welt scheint sich um Celine zu drehen – und sie muss die Welt retten, um sich selbst zu retten.

Der Roman hat dann eine mehr als überraschende Wende, die ich als „Kipppunkt ins Fantastische“ bezeichnen möchte: Celine wird sehr weit in die Zukunft katapultiert und reist auf den Mond. Vielleicht ist diese Überraschung bald sogar Normalität und wir reisen alle auf den Mond. Private Mondreisen könnten in der ferneren Zukunft mehr oder weniger normal sein.

Sehr spät im Roman taucht er endlich auf: Napoleon. Durchaus vergleichbar mit dem aktuellen Kinofilm – ja, ich bin mir bewusst: „Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich“ – kommt Napoleon auch in der fernen Zukunft insgesamt nicht gut weg. Sein Auftritt in Die fernere Zukunft kommt spät und bleibt kurz. „Es ergibt keinen Sinn, sagt Martha, warum Napoleon so verrückt nach Gärten ist.“ Celine, Martha und andere Protagonisten lassen kein gutes Haar an ihm. In der Regel wird er als „Diktator“ bezeichnet. Napoleons Charakter wird als schwach erzählt, er vermittelt sogar den Eindruck einer tragischen Figur: „Er fühlte sich alt und klug, einsam und missverstanden.“

Obwohl sehr viel Tragik, Schicksal und auch Romantik (die Rolle des Gartens und des Waldes!) in der ferneren Zukunft stecken, kommt Celine hingegen als Hauptfigur ohne übertriebene Tragik und Weltschmerz aus. Der Roman ist damit auch keine identitätspolitische Mastererzählung, die zu „neuen Diskursen“ einladen möchte.

Als Fazit überzeugt der Roman bereits unabhängig von seiner Handlung durch die wunderbare Sprache. Adam Thirlwell ist ein Roman gelungen, den man von der Gefühlslage her am besten als einen Besuch in einem Museum beschreiben kann, das man betritt und sich dann immer wieder auf den nächsten Raum freut. Die fernere Zukunft ist eine Ansammlung von Kunstwerken, die durch Sprache händisch gemacht wurden. Als man sich fragt, was denn noch kommen kann oder wird, erleben wir private Reisen auf den Mond – die einem schließlich doch vorkommen wie (neue) Zeitreisen in die gegenwärtige Vergangenheit.

Letztlich bleibt noch eine finale Verwirrung übrig, nämlich die Frage, in welche Literaturgattung der Roman gehört. Es ist kein genuin historischer Roman, auf keinen Fall „Easy Reading“ und gehört auch nicht in die Sektion „Non-Fiction“. In welches Regal stellt man ihn dann? Vielleicht ein neues Regal, das man für Romane wie Die fernere Zukunft extra beschriften könnte: „Literaturereignisse“.

Danke, Adam Thirlwell, für dieses Kunstwerk, das mehr als ein Literaturgenuss ist, sondern ein Ereignis!

Titelbild

Adam Thirlwell: Die fernere Zukunft.
Aus dem Englischen von Jan Wilm.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
400 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783103975321

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