Fliegenfangen in der Literatur

Das summende Nichts

55:46 Minuten
Fleischfliege, Sarcophagidae
Fliegen - die Lieblinge so mancher Dichter. © picture alliance / Zoonar / Gerd Herrmann
Von Rolf Cantzen · 14.11.2021
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Mit Fliegen ist kein Staat zu machen. Sie sind chaotisch, undiszipliniert und zu nichts zu gebrauchen. Sie zersetzen mit Hingabe Leichen und Ordnungssysteme. Fliegen sind dionysische Taumler – und die Lieblinge so mancher Dichter.
Manche Dichter lassen sich den Bienen, andere den Fliegen zuordnen. Die einen sind ordentlich, diszipliniert, gut organisiert und bienenfleißig. Sie gründen Staaten oder versuchen es doch immerhin. In ihrem Reich blüht es allerorten, sie sammeln Nektar und bauen regelmäßige Waben, die Horaz als Bild für das literarische Tun schätzt.

Sterben wie die Fliegen

Von den Fliegendichtern lassen sich weniger schöne Dinge berichten. Schließlich ist ihr Wappentier nicht ordentlich, vielmehr undiszipliniert, unorganisiert und zu nichts zu gebrauchen als zur Zersetzung. Nicht einmal die Geräusche der Fliegen sind angenehm. Und erst der Flug! Unberechenbar, im Zickzack und gern hundertmal gegen die Scheibe. Die Fliegendichter leben lange nach Horaz, was sie nicht vor der mangelnden Wertschätzung mancher moderner Zeitgenossen bewahrt.
Eine andere Taxonomie, ebenfalls mit Hilfe der Fliege, teilt die Dichter nach ihrer Stellung zum Fliegentöten ein. Erich Fried etwa war ein expliziter Fliegentöter. Es gibt auch implizite. Bei denen sterben Fliegen ebenfalls, aber eben nicht wie die Fliegen. Der Tod unterläuft den impliziten Dichtern eher. Bei expliziten gibt es ein bewusst herbeigeführtes Massaker. Erich Fried weiß das natürlich zu reflektieren und mahnt in „Totschlagen“:

Erst die Zeit
dann eine Fliege
vielleicht eine Maus
dann möglichst viele Menschen
dann wieder die Zeit.

Aber wie jede Reflektion kommt diese natürlich zu spät, die Fliege ist schon in den Brunnen gefallen und mit ihr einiges andere. Und zu einer vorbehaltlosen, man könnte auch sagen: expliziten Würdigung des grauen Lebewesens kann sich dieser Dichter, das ist unübersehbar, nicht durchringen.  Die Fliege ist bei Fried nicht exklusiv gemeint, sie fällt angesichts von Maus und Mensch nicht einmal besonders ins Gewicht.

Dionysische Anarchistin

Weitaus tierfreundlicher ist die Frage nach dem Gott der Fliegen. Oder nach ihrer Weltsicht durch Facettenaugen und deren Nähe zum modernen Erzählen. Oder nach dem Lob der Fliege, das schon des öfteren gesungen wurde, von Dichter natürlich. Denn die Fliegendichter wissen, was sie an ihrem Wappentier haben: eine Grenzgängerin in den Bereichen von Eros und Thanatos, Sex und Tod, Liebe und Vernichtung. Gibt es etwas Interessanteres als diese dionysische Anarchistin?

Das Manuskript der Sendung können Sie hier herunterladen.
Es sprechen: Katja Hensel, Meike Rötzer, Peter Miklusch und Michael Rothschopf
Ton: Christoph Richter
Regie: Giuseppe Maio
Redaktion: Jörg Plath
Produktion Deutschlandfunk Kultur 2020

(pla)
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