Karl Kraus und die Sprache

Etwas Vergessenes zu seinem 150. Geburtstag

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Über Karl Kraus sind bis heute allerlei Urteile und Fehlurteile im Umlauf; selbst einige seiner Anhänger missverstehen ihn gründlich. Das betrifft sogar sein Verständnis von Sprache, auf die als seine Mitte sich sein Werk bezieht. Kraus ist an diesen Missverständnissen nicht unschuldig, nicht nur durch seine Schärfe, die von Hass oft schwer zu unterscheiden war. Auch was ihm die Sprache war, fiel ihm leichter zu zeigen als darzulegen. Doch ob er das eine tat oder das andere: nur wenige haben ihn verstanden, zumeist waren es Schriftsteller wie Canetti oder Doderer. So blieb auch sein letztes Buch ohne große Wirkung.

Die Sprache, 1937 posthum erschienen, ist ein Lehrbuch, mit dem die Deutschen ihre Sprache hätten kennen und verstehen lernen können. Einige haben das wohl getan, aber viele können es nicht gewesen sein. Das Buch, eine Sammlung von Essays und Glossen, gehört in jeden Kanon der deutschen Literatur, findet sich aber in keinem. Es ist heute vergessen, obwohl es noch das eine oder andere Mal wiederaufgelegt worden ist.

Vergessen ist das Buch nicht, weil es unvollendet ist. Das mag in diesem Fall gar nicht viel zu bedeuten haben. Denn eine Sprachlehre ist nicht abzuschließen. Sie kann ihren Gegenstand nicht erschöpfen und bleibt immer der Fortführung bedürftig. Für gewöhnliche Sprachbenutzer mag das schon eine Zumutung sein. Doch die meisten geben gar nicht viel Acht auf die Sprache. Sie ist für sie nur ein Werkzeug, das sie nach Belieben gebrauchen, ohne sich viel dabei zu denken. Ansonsten ist sie ihnen gleichgültig.

Die Sprache ist eine „Sprachlehre“ zunächst in einem elementaren Sinn. Ihre Glossen gelten etwa der Bedeutung einzelner Wörter und Wendungen wie „Bis“, „Nur noch und nur mehr“, „Als und wie“ oder „Aus oder von“, dann Zeichen wie dem Apostroph und dem Komma, Druckfehlern, die Wörter entstellend und doch erhellend sein können, schließlich, die Grenze zur Kunst überschreitend, auch dem Reim. Wären diese Lektionen, die scharfsinnig und witzig, aber nicht schulmeisterlich sind, gelernt worden, hätte das schon den Gebrauch der deutschen Sprache verbessert. Dass dieser Fall nicht eingetreten ist, kann man täglich hören und lesen.

Der in mehr als einem Sinn falsche Gebrauch der Sprache ist bis heute allfällig, nicht nur in ihrer öffentlichen Verwendung vor allem durch Journalisten und Politiker, sondern auch in der „Umgangssprache“, die, Kraus zufolge, „entsteht, wenn sie mit der Sprache nur so umgehn“. Ihr richtiger Gebrauch müsste immer wieder neu gelehrt werden. Doch auch dann wäre er noch nicht gesichert. Denn die meisten Sprecher sind der Sprache nicht gewachsen. Nicht nur hinter ihren Möglichkeiten bleiben sie weit zurück. Dass sie eine Sprache wie die deutsche ,beherrschten‘, mögen sie selbst glauben. Für Kraus war das schon „kraft der tiefen Besonderheit dieser Sprache gar nicht möglich, die es vor ihren Sprechern voraus hat, sich nicht beherrschen zu lassen“. Sprachlehre und Sprachkritik sind unendliche Aufgaben. Kraus hat einen Kampf gekämpft, der nicht zu gewinnen ist, weil er nicht beendet werden kann. Doch was ist dann mit einer Sprachlehre und gerade mit seiner gewonnen?

Auf den einen, den praktischen Gewinn hat Kraus in seinem Essay Die Sprache, der das Buch beschließt, als mögliche „Nutzanwendung der Lehre“ hingewiesen: die Verbesserung des Sprachgebrauchs. Sie ist ein Gewinn, und sei sie auch nur bei wenigen und auch bei denen nur für eine Zeit zu finden.

Mit dem praktischen einher geht der ästhetische Gewinn. Etwas richtig zu machen, stellt eine kleine Vollkommenheit dar. Es ist ein Wert an sich und schon deshalb willkommen, aber auch, weil Menschen nur wenig gelingt, was nicht zu verbessern ist.

Kraus versprach sich – und seinen Lesern – von seiner Sprachlehre aber vor allem einen moralischen Gewinn:

Diese Gewähr eines moralischen Gewinns liegt in einer geistigen Disziplin, die gegenüber dem einzigen, was ungestraft verletzt werden kann, der Sprache, das höchste Maß einer Verantwortung festsetzt und wie keine andere geeignet ist, den Respekt vor jeglichem andern Lebensgut zu lehren.

Auf diesen Gedanken dürften die wenigsten Sprecher und Schreiber kommen:  dass die Sprache ein „Lebensgut“ ist, das „verletzt“ werden kann und deshalb geschützt werden muss, aus Respekt vor einem Gut und aus Verantwortung vor dem Schutzlosen.

Respekt und Verantwortung setzen allerdings, wenn es um die Sprache geht, einen Zweifel voraus. Er, schreibt Kraus, ist „die große moralische Gabe, die der Mensch der Sprache verdanken könnte und bis heute verschmäht hat“. Der „sprachliche Zweifel“ ist aber nicht der Zweifel an der Sprache. Es ist der Zweifel, den sie uns lehrt: an uns.

In seiner letzten Aphorismen-Sammlung Nachts hat Kraus, im Hinblick auf seine Art zu schreiben, bemerkt: „Jeder Satz müßte so oft gelesen werden, als Korrekturen sein Wachstum von der Handschrift bis zur Lektüre begleitet haben“, und von den „zehn Verwandlungen“ jedes seiner Sätze gesprochen. Schriftsteller sein hieß für ihn nicht, Worte schnell bei der Hand zu haben, sondern die richtigen zu suchen und die möglichen Verbindungen zwischen ihnen erst zu finden:

Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die Sprache beherrscht mich vollkommen. Sie ist mir nicht die Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in einer Verbindung mit ihr, aus der ich die Gedanken empfange.

Karl Kraus dachte in der Sprache. Dass er in ihr seine Gedanken fand, ließ ihn bescheiden und sorgfältig werden: Es „zwingt auf die Knie und macht allen Aufwand zitternder Sorgfalt zur Pflicht“. Diese Haltung unterscheidet Kraus auch heute noch von allerlei Schreibern und sonstigen Sprachverwendern, wie ihm bewusst war: „Er beherrscht die deutsche Sprache – das gilt vom Kommis. Der Künstler ist ein Diener am Wort.“

Wer sich so auf die Sprache einlässt, erfährt, dass sie größer ist als er, niemals zweifelsfrei zu fassen und zu erfassen. Für ihn gilt es, den „Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer Gefahren nahezukommen“. Darin liegt dann auch die „Erlösung der Lebensgüter aus den Banden des Journalismus und der Politik“ – den Institutionen, die glauben, sich der Sprache selbstherrlich bedienen zu können. 

Sich auf die Sprache einzulassen, ist eine geistige Beschäftigung, die lohnend ist „durch das Nichtzuendekommen an einer Unendlichkeit, die jeder hat und zu der keinem der Zugang verwehrt ist. […] größer als die Möglichkeit, in ihr zu denken, wäre keine Phantasie.“ So hat Kraus auch die Literatur verachtet, sofern sie keine Sprachkunst ist. Seinen Essay über die Sprache beendet er mit der knappen Aufforderung: „Der Mensch lerne, ihr zu dienen!“ 

Wie man der Sprache dient, hat Kraus in den 37 Jahrgängen der Fackel vorgeführt: indem er sie scharfsinnig und scharfzüngig schützte vor nachlässigem, sie beschädigendem Gebrauch; indem er jeden Versuch, sie zu „reinigen“ oder zu verbessern, verspottete; indem er, auf sie hörend, sich dem Wissen und der Weisheit zu nähern versuchte, die in ihr sind; und indem er, in ihr denkend, geschrieben hat, aphoristisch, essayistisch und lyrisch.

Die moderne linguistische Theorie, dass sprachliche Zeichen arbiträr seien, sich einer veränderbaren, gewissermaßen immer neu aushandelbaren Übereinkunft der Sprecher verdanken, teilte Kraus nicht. Manche haben ihn deshalb als Sprachmystiker abgetan, obgleich seine sprachlichen Analysen alles andere als mystisch sind. Der Respekt vor der Sprache, den Kraus fordert, verrät den Ethiker mehr als den Mystiker.

Allerdings stand er auf verlorenem Posten. Wer in der Sprache denkt, ist dem nicht verständlich, der nicht einmal an sie denkt. „Sie verstehen ihre eigene Sprache nicht“, hat Kraus von den Deutschen gesagt. So haben sie auch ihn und seine Sprachlehre nicht verstehen können, bis heute. Er denkt anders, und er spricht eine andere Sprache als sie. Er ist ihnen unklar, wie klar er sich auch ausdrücken mag. Darin liegt eine Grenze seiner Wirksamkeit, die er gekannt hat: „Kunst“, schreibt Kraus knapp, „ist etwas, was so klar ist, daß es niemand versteht.“ Das gilt umso mehr für die aus der Sprache entstandene Kunst.

Literaturhinweise:

Karl Kraus: Die Sprache. Schriften. Herausgegeben von Christian Wagenknecht.  Band 7. Frankfurt a.M. 1987.

Karl Kraus: Aphorismen. Sprüche und Widersprüche. Pro domo et mundo. Nachts. Schriften. Herausgegeben von Christian Wagenknecht. Band 8. Frankfurt a.M. 1986.

Hinweis der Redaktion:

Der Essay ist entnommen aus Dieter Lamping: Orpheus und die Seinen. Essays zu Autoren und Werken der Weltliteratur. Düsseldorf: onomato verlag 2023, S. 111-116.