Ästhetische Innovation und Praxis

Karl Philipp Moritzʼ ästhetische und literaturpraktische Schriften in opulenter Kommentierung

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim ersten ungefähren Blick auf die beiden Bände aus der Werkausgabe von Karl Philipp Moritz stellt sich vage ein Staunen ein: War hier das Verhältnis von Texten und Kommentar in einem (von Kulturkritikern oft leichtfertig geforderten) ‚adäquaten Gleichgewicht‘ – üppiger Textband zu schmalem Kommentarband? Der flüchtige Eindruck beruht auf einem buchtechnischen Versehen: Die beiden Rückenschilder sind vertauscht. Der Text-Band hat 565, der Kommentar knapp über 1000 Seiten. Und letzterer zeigt nicht nur durch sein Volumen, dass die KMA (Kritische Moritz-Ausgabe) als Edition Sämtlicher Werke auch bei den ästhetischen und kunst-/literaturtheoretischen Schriften von Karl Philipp Moritz enorme Forschungsarbeit zur Verfügung stellt, um den über Jahrhunderte in seiner Bedeutung und literarischen Kontur unerkannt gebliebenen Klassiker und mannigfachen Autor in seinen historischen und literarischen Kontexten lesbar zu machen.

Welche Bedeutung Moritz als Ästhetiker gewann, machen die wenigen Texte in der Rubrik „Grundlagenschriften zur ästhetischen Theorie“ bereits klar. Sie hängen eng mit der Italien-Reise 1786 des sich aus ärmlichen Verhältnissen in die kulturelle Elite Berlins hocharbeitenden Pädagogen zusammen: einer zweijährigen Reise, während der die ästhetischen Ansichten von Moritz reiften und deren Publikation ihn zu einem der bedeutendsten Ästhetiker der klassisch-frühromantischen Epoche machen sollten.

Dass diese wirkliche „Bildungsreise“ für Moritz entscheidend war, macht bereits die Statistik deutlich: Nur ein Text mit ästhetischen Reflexionen aus der Zeit vor der Italienreise findet sich in der Eingangssektion der ästhetischen Grundschriften in der Edition: der an den Berliner Philosophen Moses Mendelssohn adressierte „Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten“, in dem sich bereits einige der später im Zusammenhang mit der Italienreise von Moritz ausgearbeiteten und variierten Theoreme seiner Kunstphilosophie finden. So wird hier bereits die Überzeugung der notwendigen „In-sich-selbst-Vollendung“ des Kunstwerks formuliert, die jedes Kunstwerk von allen nützlichen, guten, „edlen“ Erwägungen trenne. Auch der zentrale Begriff der „Nachahmung der Natur“ ist in dieser Schrift vorgegeben, aber nur als Gegensatz zum „Vergnügen“, das in der von Moritz kritiserten zeitgenössischen Debatte gegenüber der Nachahmung an Stellenwert gewonnen habe. Dagegen soll die Begriffszergliederung von nützlich, gut, schön das in sich selbst Vollendete des Schönen als Höchstes erweisen. Damit ist, wie der Herausgeber Martin Disselkamp bemerkt, erstmals die Forderung nach der Autonomie der Kunst ausformuliert: „der Aufsatz darf als eigenständig und revolutionär gelten.“ (S. 667)

Während des mehr als zweijährigen Italienaufenthalts, bei dem Moritz mit dem ebenfalls in Rom und Neapel weilenden Goethe einen für beide sehr fruchtbaren Austausch über Kunst, Antike, Literatur pflegt, sandte Moritz an seinen Verleger Campe in Braunschweig die kleine Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen, die als zentraler Text von Moritzʼ Kunstphilosophie gelten kann. Hier wird unter der Einbeziehung von Kunsterlebnissen eine Theorie entwickelt, die ästhetische Philosophie, psychologische Einfühlung und Geschmacksnormen vereint in einer stimmigen, wenn auch mitunter als individuell erscheinenden Auffassung vom Schönen. Auch hier ist es wieder eine Begriffszerlegung der mit der Kunst verbundenen Kategorien des Guten, Nützlichen, Edlen und Schönen („wo es beym Nachdenken über die Sache bloß aufs Unterscheiden ankömmt“, S. 12), die sich zu einer ausgeprägten Theorie des Schönen rundet. Über diese Zerlegung hinaus sind es zwei weitere Grundannahmen, die Moritz ventiliert: die eines spezifischen Nachahmungstriebs des Künstlers und die Vollendung des Kunstwerks in sich selbst als Analogie zum Großen der allumfassenden Natur. Der höchste Genuss des Kunstwerks/Schönen ist „dem schaffenden Genie, das es hervorbringt“ (S. 26) vorbehalten: „das Schöne hat daher seinen höchsten Zweck, in seiner Entstehung, in seinem Werden schon erreicht: unser Nachgenuß desselben ist nur eine Folge seines Daseyns – und das bildende Genie ist daher im grossen Plane der Natur zuerst um sein selbst, und dann erst um unsertwillen da“ (S. 26). Insofern zielt Moritz auf eine Hierarchie von Genie und GenießerIn, von – seltenem – echten Hervorbringen und häufigem Hervorbringen-Wollen infolge von Kunstgenuss. Die Bildungskraft des Genies aber reiche über die Denkkraft der Betrachtenden hinaus, weil sie in der vollendeten Beziehung all ihrer Teile in einem Vereinigungspunkt ein „fast vollständiger Abdruck“ (S. 30) der großen Natur sei. Diese harmonische Nachahmung der vielfältigen Gegensätze der Natur, die auch Zerstörung, Elend, Depression umfasse (hier rekurriert Moritz womöglich auf seine eigenen Kindheitserfahrungen, wie sie sein Roman „Anton Reiser“ symptomatisch beschreibt) in einem zentralen Verknüpfungspunkt der einzelnen Aspekte des Kunstwerks gilt dem Autor als das Wesen des Schönen. Moritzʼ Verbindung von Geniekult, Naturempfinden, Begriffszergliederung, Psychologie zu einer gegen eine vordergründige Instrumentalisierung als Allegorie von außer ihr liegenden Inhalten hat durchaus Epoche gemacht. Lessings Laokoon-Problem der zeitlichen Folge von Momenten, klassizistisches Formbewusstsein, Wirkungsästhetik als Vorläufer von Rezeptionsästhetik verweisen auf die Anschlussfähigkeit dieser Theorie für zeitgenössische Ansätze und ebenso auf die sich herausbildende Frühromantik.

Weitere Texte des Bandes vertiefen diese ästhetische Philosophie des in sich gerundeten Kunstwerks in konkrete Bereiche von Literatur, Plastik, Malerei. Entsprechende Texte widmen sich Fragen der Ornamentik, dem Isolieren in der Kunst, der Funktion von Einfachheit und Klarheit in der Kunst. Diese Überlegungen zur praktischen Ausübung der Künste erwiesen sich nach der Rückkehr aus Italien dem zu einer Stellung in der Akademie der Künste aufsteigenden Autor als nützlich für seine diversen Lehrtätigkeiten.

Eröffnet die Ausgabe mit den Grundschriften und theoretischen Erweiterungen einen umfassenden Blick auf die ästhetischen Innovationen von Moritz so führt sie weiter auf dessen Literaturtheorie und Schriften zur Literatur. Zu letzteren gehört als ein Beitrag zu den literar-ökonomischen Bedingungen der Zeit die im Kommentar reich kontextualisierte öffentliche Auseinandersetzung mit seinem Verleger Campe wegen der Veröffentlichung des Ästhetik-Textes „Von der Nachahmung des Schönen“. (Diese hätte in der KMA womöglich auch im Zusammenhang mit der Italien-Reise ihren Platz finden können, da es in dieser Polemik um die literarischen Folgen selbiger geht.)

Den praktischen Weiterungen seiner Literaturtheorie in Stilistik und Prosodie widmete sich Moritz in 1793 erschienenen Vorlesungen über den Styl und bereits kurz vor der Italien-Reise in einem Versuch einer deutschen Prosodie. Die zeitgenössisch nicht nur von Goethe ausgesprochen positiv aufgenommene, in der Form von zwischen den antiken Gestalten Arist und Euphem gewechselten Briefen präsentierte Prosodie-Arbeit ediert in dem Band Lars Korten, der darauf hinweist, dass es Klopstocks freie antike Hexameter waren, die eine neue Befassung mit der Prosodie in der deutschen Versliteratur notwendig machten. Moritz entwarf sein System als eines sowohl der Kontextabhängigkeit des Silbenmaßes und Versfußes als auch der Bedeutungsrangfolge bestimmter Wortgruppen untereinander. Es galt, wie in einigen Nachrufen artikuliert, seinerzeit als Moritzʼ eigentlich bleibendes Werk.

Unvollendet blieben hingegen die Vorlesungen über den Styl, die Moritz an der Artillerie-Akademie  in Berlin hielt. Sie versuchen von einer bis dato üblichen Regeleintrichterung zu einer Denkschule des Schreibens zu gelangen: „Was wirklich schön gesagt seyn soll, muß auch vorher schön gedacht seyn; sonst ist es leerer Bombast und Wortgeklingel, das uns täuscht.“ (S. 360). Hier knüpft der Autor einmal mehr an seine Praxis als Didaktiker des Sprachen- und Denkunterrichts an, wie ihn seine Sprachlehren für Kinder in der Reformpädagogik des späten 18. Jahrhunderts bereits bekannt gemacht hatten.

Die Ausgabe orientiert sich an den von Moritz überlieferten Texten und weniger an der Gestalt der unter seinem Namen veröffentlichten Bücher. Dies bringt mit sich, dass etwa die zeitgenössisch von Daniel Jenisch um ein Kapitel ergänzten postumen Vorlesungen über den Styl ohne dieses geboten werden. Dem Prinzip, Texte nicht doppelt oder mehrfach abzudrucken, sind (in Moritz‘ Kompilation Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente) mehrere, den Lesefluss unterbrechende Textlücken geschuldet, wo auf die bereits vorher im Band abgedruckten Einzelschriften verwiesen wird. Wie der Herausgeber aber bereits eingangs erklärt, wird das Prinzip durchbrochen, wenn aus Band 6 der Aufsatz „Die metaphysische Schönheitslinie“ verständlicherweise im vorliegenden Band in der Edition durch Albert Meier wieder abgedruckt wird (dies gilt auch für die in Moritz‘ Freimaurer-Schrift aufgenommenen Texte aus Über die bildende Nachahmung des Schönen). Analog zu den anderen Bänden der KMA sind die in den Vorbegriffen zu einer Theorie der Ornamente vorhandenen Kupferstiche, auf die Moritz z.T. explizit eingeht, erst am Ende des Kommentarbandes unter den Abbildungen der Titelblätter zu suchen.

Diese kleineren Auffälligkeiten verblassen angesichts der textgetreu und durch zahlreiche Dokumente, Rezeptionstexte, Briefstellen in ihrer zeitgenössischen Wirkung bewundernswert plastisch wirkenden Präsentation der ästhetischen und kunst-/literaturtheoretischen Texte von Karl Philipp Moritz. Damit wird überzeugend die Bedeutung von Moritz als einem der wichtigsten Ästhetiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts profiliert und eine entsprechende Wirkungsgeschichte in die Zukunft prognostizierbar. Wie bereits Band 5.1. mit der England-Reise baut auch Band 3 mit seinen ästhetischen Texten und der Dokumentation der Polemik mit seinem Verleger Campe eine Erwartungshaltung hinsichtlich der Edition der Italien-Reise auf, die weitere biographisch-lebensweltliche Hintergründe von Moritzʼ ästhetischer Entwicklung im Zusammenhang seiner Reisebeschreibung sichtbar zu machen verspricht.

Titelbild

Karl Philipp Moritz: Schriften zur Kunst- und Literaturtheorie. Sämtliche Werke, Band 3.
Hg. von Martin Disselkamp, Lars Korten und Albert Meier.
De Gruyter, Berlin 2023.
1582 Seiten in 2 Teilen , 399,00 EUR.
ISBN-13: 9783110785210

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch