Die Fomo-Generation

Ilona Hartmanns Anti-Roman „Klarkommen“ macht auf eindrucksvolle Weise deutlich, was man noch alles verpassen kann, wenn man schon alles verpasst hat

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„langweilig, einer von fünf Sternen“ (Selbstrezension der Autorin vor Erscheinen des Werks) 

Dagegen. Meine Eltern hätten sich wahrscheinlich einen normalen, rebellischen, türknallenden Teenager gewünscht. Aber diesen Gefallen tat ich Ihnen nicht. Mein Trotz war leise. Ich bastelte an ihm wie mein Bruder an seinen komplizierten, hässlichen Actionfiguren. Allein in meinem Zimmer unter großen Kopfhörern. Die große Vision für später sah vor, nachzuholen, was jetzt nicht erreichbar war. Also alles.

Das im Eingangszitat anklingende, witzige, espritvolle Element durchzieht den gesamten Text: Ilonas Hartmanns Klarkommen ist das Werk einer klugen jungen Autorin, das Lesevergnügen bereitet. Am ehesten könnte man es als eine Art „Anti-Roman“ bezeichnen. Es passiert „nichts“. Das scheint geradezu Programm zu sein. Selten hat jemand innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur das Sich-Nicht-Ereignen, das Nicht-Geschehen in solch sprachlich schöne und angemessene Form „gegossen”, was sich auch in Bonmots oder Pointensätzen mit Versatzstücken aus der Alltagssprache in neuer Zusammensetzung äußert: „Ich wollte wirklich gerne meine Jugend verschwenden, aber doch nicht so.“

Das Werk handelt von der FOMO-Generation: Fear of Missing Out, ein Ausdruck, der 2004 in einer Kolumne des Autors Patrick MC Ginnis das erste Mal auftaucht und der die Angst bezeichnet, etwas zu verpassen – in den sozialen Medien oder in der Realität. Es geht um das Leben der Protagonistin zusammen mit ihrer Freundin Mounia und dem gemeinsamen Freund Leon. Alle drei sind in der gleichen süddeutschen Provinzstadt aufgewachsen und versuchen nun ihr Glück in einer WG in Berlin. Sie ziehen in eine gemeinsame Wohnung, die ihnen Mounias Onkel zur Verfügung stellt, die aber ständig durch Bauarbeiten blockiert wird oder die Wohnqualität durch Ratten und anderem stark beeinträchtigt ist.

Im Text werden die Beziehungen der drei untereinander, aber auch der ihrer gesamten Entourage „beschrieben“:

Dann sah ich noch einmal zu Leon (cool) und Mounia (uncool), die gerade von der Toilette kam und ihre Hände an der Jeans trocknete, weil vermutlich die Papierhandtücher aufgebraucht waren. Ich dachte an meinen Bruder (leider cool) und daran, dass jeder Mensch ein Depp war. Ich dachte an Franz (sehr cool), Gianna (auch sehr cool), Geiger2 (extrem cool), meine Eltern (disqualifiziert). Ich dachte an mich und wurde müde. Der Stiefel und ich waren fast gleich alt und wir hatten unterschiedliche Wege gewählt.

Ansonsten verzichtet der Text auf Eindeutigkeiten, besonders was die Beziehungen zwischen den Figuren betrifft: „Ich beneidete Monia um ihre Beziehung zu Leon. Die flüssig und klar war, während er und ich die ganze Zeit einen unhandlichen Betonklotz zwischen uns hin und her schoben.“ So en passant erfährt der*die Leser*in, dass Leon einige Zeit eine Beziehung mit Mounia hatte, die dann aber auch im Sand verläuft, als sich Leon wieder anderen Menschen und Themen zuwendet, etwa sich auf eine Reise begibt. Wie so vieles im Werk bleibt der „Beziehungsstatus“ unklar, d.h. wie die Personen emotional miteinander verbunden sind, und spielt dennoch eine große Rolle, etwa die Beziehung der Protagonistin zu Frau Heiner, der Pächterin der Kneipe Stiefel, wo Leon kellnert und wo in „kleinen Stiefelgläsern ausgeschenkt wird“. Oder in Verbindung mit der „coolen” Kommilitonin Gianna, die sich „aber” um ihre kranke Mutter „kümmern muss”.

Die Kapitel sind kurz und durch bezeichnende (oft Einwort-)Überschriften in Kleinbuchstaben wie „flieder“, „saufen“, „motten“, „juli“, „gripinf“ (Grippeimpfung), manche auch in zwei Versionen wie „Kaschmir 1 und „Kaschnir 2 und natürlich „klarkommen“ markiert: „Über die Jahre hatten wir uns eine Art zu denken angewöhnt, die sich wie Intelligenz anfühlte, aber keine war. Wir hatten Angst, jeden Tag und vor fast allem, unsere einzige Chance war, die Zukunft vorauszusehen und schon auf sie vorbereitet zu sein, bevor sie auf unsere Oberfläche traf.“ Besonders gelungen (durchaus ernst gemeint gemäß der Konzeption des Werks) erscheint in diesem Kontext auch das Kapitel „kneipenjahre“, worin es lapidar heißt: „Gab es nicht.”

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist dabei die Beziehung der Protagonistin zu ihren Eltern und der damit verbundenen „Fachwerkmentalität” der Kleinstadt, woran zugleich ein spezielles Milieu deutlich wird und sich wiederum autobiographische Züge im Werk zeigen. Hierbei soll im wortwörtlichen Sinne trotz des Auseinanderlebens und der Scheidung der Eltern, die „Fassade aufrechterhalten“ werden, was sich in dem Begriff „zusammenreißen“ ausdrückt: „Sie, deren wichtigster Erziehungsinhalt Zusammenreißen gewesen war, hatten sich so unglaublich zusammengerissen, beide auf ihre Art, dass wir Kinder uns angesichts der Stille gruselten.”

Ilona Hartmanns ist eine sehr geistreiche und kreativ-witzige Autorin, die unter anderem Texte für die Heute-Show geschrieben hat. An vielen Stellen im Werk zeigt sich ihre sprachliche Meisterschaft. Im schwäbischen Bachknang in der Nähe von Stuttgart geboren, hat sie sich als „engagierte Autorin” bereits mit einigen Tweets (Twitter, heute X) und Posts zum Zeitgeschehen unter dem Namen „zirkuspony“ einen Namen gemacht. Zudem moderierte sie von 2021 bis 2023 mit dem Editorial-Direktor des Zeit-Magazins Christoph Amend einen wöchentlich erschienenen Interview-Podcast unter dem Titel Und was machst du am Wochenende? Bereits ihr erster Roman Land in Sicht von 2020 trägt stark autobiographische Züge, was sich auch für das hier besprochene Werk behaupten lässt: Im ersten geht es um eine Vatersuche (Hartmann wuchs mit ihrer alleinerziehenden Mutter auf), im zweiten um das Aufwachsen in einer provinziellen deutschen Kleinstadt und auf einem „Restegymnasium”, also nicht auf dem besseren, sondern dort, wo der „Rest hinging”. Beide Werke bestechen gleichermaßen durch ihre phantasievolle, lustige Sprache. Auffällig in Klarkommen ist außerdem, dass die Autorin genderneutrale Sprache verwendet, was bislang in Werken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht oft vorkommt.

Dieses „Witzig-Esprithafte” tritt auch in dem hier besprochenen Roman immer wieder von Neuem zutage. Was Ilona Hartmann mit ihrem Werk schafft, ist zudem eine Vermischung der Ebenen von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenen Objekt wie etwa der Stadt, die zugleich personalisiert wird. Diese Ebenen wechseln manchmal, wenn sie etwa „das erste Jahr” anthropomorphisiert: „Das erste Jahr in der großen Stadt war achtlos an uns vorüber gelatscht. Wie eine Passantin während wir in der Spiegelung eines Ladenfensters überprüften, ob wir gut aussahen. (Nein).“  Oder wie es an einer anderen Stelle heißt: „Die Stadt stank aus dem Maul. Auf meinem kurzen Weg zur U-Bahn stiegen mir intensive Gerüche von Pisse, Party, Kotze, Abgasen, altem Frittierfett und Schweiß, beinahe schmeckbar, in die Nase.“

Es gibt immer wieder neue, sehr witzige Passagen, die aber aus einer Art von Verzweiflung darüber entstanden sind, dass das Leben weitergeht und man selbst nicht daran teilhat bzw. bislang nicht teilgenommen hat und vermutlich auch in Zukunft nicht daran teilnehmen wird: „Wir waren keine klassischen Loser. Ja, einfach bleiche Füllmasse. Für die sonst pastellfarbene Fußgängerzone. Wir waren zu schwach für Punk, und zu arrogant für den Rest. Wir waren langweilig und peinlich. Wir waren nicht rau oder cool oder schön, wir waren einfach nur auch dabei.“

Das Interessante an dem Buch ist auch, dass es in kleinen Sequenzen, fast filmisch, erzählt ist. Und es handelt sich wiederum um einen Film, mit dem das Leben metaphorisch verglichen wird: „Mein Leben war kein Film, aber ich verhielt mich wie die Hauptfigur. Die Realität war unzusammenhängend, wirr, selten belohnend, manchmal wilder und witziger als alles ausgedacht. Immer ein wesentlich schlechter erzähltes Realityformat.“

Die Passage beweist einmal mehr, dass vor allem die Sprache die eigentliche Protagonistin dieses Werks ist. Und die Autorin zeigt immer wieder, dass sie bis in die subtilsten Metaphern hinein über eine sehr kreative, anspruchsvolle wie ansprechende Sprache verfügt. So ist ein Kapitel einfach mit „tja“ überschrieben. Was das Buch so lesenswert macht, ist genau diese sprachliche Kunstfertigkeit und vermeintliche Leichtigkeit, mit der es daherkommt. Es passiert nicht viel, aber dieses Nicht-viel-Passieren ist auf eine sprachlich witzig und spannende Weise dargestellt, dass es darüber hinaus fast keiner durchgängigen Geschichte mehr bedarf.

Auf diese Weise vermittelt Ilona Hartmann eine Menge Lesevergnügen, sodass Leser*in beinahe enttäuscht ist, dass das Buch nach 188 Seiten (nicht 196 Seiten wie es in der ZEIT-Rezension heißt) schon zu Ende ist. Neben der hochvergnüglichen Sprache besticht das Werk durch eine kluge Milieuschilderung und eine Sezierung unserer modernen Welt in Form einer sehr authentischen und nicht beschöningenden Darstellungsweise, weshalb es keineswegs nur der Generation der FOMO, sondern jeder Generation wärmstens zur Lektüre empfohlen werden kann.

Titelbild

Ilona Hartmann: Klarkommen.
park x ullstein, Berlin 2024.
192 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783988160041

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch