Die Wahrheit hinter der Wahrheit

Philip Reich thematisiert die „Genese literarischer Tradition zwischen Mittelalter und Neuzeit“ und sucht dabei liebgewordene Klischeevorstellungen und deren Grundlagen zu entlarven

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Wissenserwerb mit Entbehrungen verbunden ist – oder doch zumindest sein kann –, erscheint in der gegenwärtigen Zeit, in der jedenfalls im hiesigen Raum Schülerinnen und Schüler ‚abgeholt‘ werden müssen, damit Pädagogik entsprechend der Zielgruppe ‚funktioniert‘, kaum mehr vorstell-, geschweige denn zumutbar. Auch in außerinstitutionellen Bildungsangeboten herrscht die Idee des Infotainments vor, dessen ‚nerdige Kaspereien‘ in Wissenschaftsshows des Vertrauens vor allem durch das komplizenhafte Einverständnis zwischen Moderator:in und Publikum – einschließlich Applaus an den ‚richtigen‘ Stellen – gekennzeichnet sind.

Nun gibt es in der Tat wenig Neues unter der Sonne. Der Fahrende Schüler als prekärer Typus, so der Titel der überarbeiteten Dissertation von Philip Reich, mag zunächst irritieren angesichts der Wandlung der Vorstellung vom zumindest implizit bedrohlichen Studentenwanderer des Mittelalters zum eher heiteren und leichtfüßigen Bild jener Bildungssuchenden, das sich vor allem in der späteren Neuzeit Bahn brach und sich deutlich aufgehellt publikumswirksam etwa in Carl Millöckers Operette Der Bettelstudent niederschlug. Allerdings, das sei bereits vorweggenommen, arbeitet Philip Reich in seinen Untersuchungen mehrere Typologien von Prekarität heraus, von denen die materielle nur eine ist.

Offenkundig ist, dass die Idee des ‚Fahrenden Schülers‘ in der literarischen wie wohl auch außerliterarischen Überlieferung sehr produktiv war und gesellschaftlich abrufbare Bilder generierte. Derlei anhaltendes Interesse erscheint bemerkenswert, und den entsprechenden Imaginationen auf den Grund zu gehen, sie zu hinterfragen und im besten (oder schlechtesten) Fall zu entlarven, ist sicherlich einer der interessanteren Ansätze in der Literaturwissenschaft. Dementsprechend geht Philip Reich den „wirkmächtigen literarischen Traditionen“ auf den Grund. Er nimmt dabei das (oder eigentlich die) literarische(n) Muster in den Blick, die für dieses Bild „von den Carmina Burana über mittelalterliche Schwänke und frühneuzeitliche Polizeiordnungen bis zur Studentenromantik“ angewandt wurden. Dass dabei gesellschaftliche Vorgaben wie Erwartungshaltungen im Wesentlichen an der Ausbildung modellhafter Vorstellungen beteiligt waren, ist korrekt, allerdings auch eine insofern triviale Aussage, als sie prinzipiell für alles Gültigkeit hat, was in einen gesellschaftlichen Rahmen eingebettet ist.

So weit wie zutreffend ist auch der Bogen gespannt, unterhalb dessen der Autor die durchgängige beziehungsweise wiederkehrende Idealtypisierung jener Wissenssuchenden in den Blick nimmt. Ambitioniert ist auch die selbstverständlich selektive Quellenuntersuchung, die den Zeitraum vom 13. bis ins 19. Jahrhundert berücksichtigt. Dass dies Chancen wie auch Gefahren birgt, muss nicht betont werden – je absoluter die Gültigkeit des Ergebnisses angesetzt wird, desto schwerwiegender sind mögliche Abweichungen, die dann vielleicht sogar die Basis des Ganzen unterhöhlen.

Womöglich soll der in der Einleitung den „grundlegenden Annahmen“ vorangestellte Bezug auf Johann Wolfgang Goethes Faust dieses Dilemma lösen. Dann wäre das auf den Pudel, also Mephisto, herangezogene Zitat von Fausts Gehilfen Wagner, der den Typus des insofern Stupenden als rein rational Orientierten vertritt, höchst interessant. Dessen Urteil fällt angesichts des erstaunlichen Gebarens des Pudel-Mephisto reichlich trocken aus. Denn „dem Hunde, wenn er gut erzogen, wird selbst ein weiser Mann gewogen. Ja deine Gunst verdient er ganz und gar, er der Studenten trefflicher Scolar“. Die hiermit verbundenen ironischen Brechungen gehen im Kontext dieser Einleitung deutlich über den Faust hinaus und sind sowohl allgemein auf den (im literarischen Kontext) tradierten Typus des ‚Fahrenden Schülers‘ als auch auf die wertende Gesellschaft zu beziehen, innerhalb derer er sich bewegt.

Reich knüpft mit einem Überblick zur Forschungslage an. Er beginnt mit dem Discursus historico-philologicus de vagantibus scholasticis, einem Text aus dem späten 17. Jahrhundert, und führt über die Positionen der vor allem germanistischen Forschung des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart. Anliegen des Verfassers ist es, bereits an dieser Stelle die veränderte Perspektive im Forschungsansatz sowie Kontinuitäten und vor allen Dingen Diskontinuitäten aufzuzeigen, an denen beziehungsweise gegen die er selbst ansetzt.

Der Ansatz des Vorhabens ist literaturwissenschaftlich ausgerichtet, wobei auch sozialgeschichtliche Quellen mit einbezogen werden. Und eigentlich, auch das klingt implizit an, wo es nicht explizit ausgeführt ist, legt das Axiom einer anhaltenden Tradierung einen chronologischen Aufbau der Herangehensweise nahe. Dementsprechend ist der eigentliche Teil der Forschungsarbeit in drei den entsprechenden Zeitabschnitten zugeordnete Hauptpunkte untergliedert, allerdings ist ein logischer Bruch erkennbar. Zunächst wird die Zeit „um 1500“ in den Blick genommen, dann folgt – hier wäre eine Positionierung am Anfang zu erwarten – der Teil „bis 1500“, um wieder folgerichtig mit der Zeit „nach 1500“ als Ausblick abzuschließen. Vielleicht war hier der Aspekt einer Umfangssymmetrie ausschlaggebend? Erstes und drittes Arbeitskapitel umfassen jeweils rund 120 Seiten, der zentrale, chronologisch aber an den Anfang zu setzende Großabschnitt mehr als 300 Seiten.

Der erste zeitlich-thematische Abschnitt ist insofern geschickt angegangen, als in den europäischen Gesellschaften um die Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrtausends grundsätzlich eine Art Scharniersituation zu konstatieren ist; gesellschaftliche Ebenen im Allgemeinen wie auch administrative im Besonderen weisen in unterschiedlicher Graduierung sowohl noch altüberkommene, also ‚mittelalterliche‘ Komponenten als auch Entwicklungen auf, die in die ‚rationale‘ Moderne verweisen. Für diesen, gemessen an den anderen Feldern zeitlich verdichteten Zeitabschnitt sind also sowohl retrospektive als auch perspektivische Parameter in den Blick zu nehmen, und genau das unternimmt Philip Reich auch. Zunächst werden „Probleme der Referenzialität“ erörtert, indem etwa „Gesellschaftsbilder“ und „literarische Imaginationen“ aufgeführt werden, die der Erläuterung der „Narratologie einer typisierten Figur“ dienlich sind. Anschließend, das ist ein weiterer Basisstein, auf dem die Argumentation aufbaut, werden die Felder ausgewiesen, denen der Typus des ‚Fahrenden Schülers‘ zuzuordnen ist.

Anhand diverser „Bettlerkataloge“ wird er als materiell prekär sowie, bezogen auf die gerade in dieser Umbruchsituation häufigen Gesellschaftssatiren, als moralisch prekär vorgestellt. Dass der ‚Fahrende Schüler‘ diesen Teil abschließend auch als „methodisch prekär“ definiert wird, ist dem Bezug auf die Metaebene zu danken, denn „die vorgenommenen Untersuchungen führen zu dem Ergebnis, dass eindeutige Wahrheiten über den (historischen) ‚Fahrenden Schüler‘ nicht möglich sind“.

Während Philip Reich eigenem Bekunden nach also zunächst einen ‚mikrohistorischen Zugriff‘ unternimmt, folgt im umfangreichsten Block, der dem Blick auf die Vormoderne gewidmet ist, ein „makroskopischer Blick auf diachrone Prozesse“. Auch hier erfolgt der Einstieg über theoretische Überlegungen, in denen etwa eine „partiale Literaturgeschichtsschreibung“ in den Blick genommen wird. Inwieweit dieser Aspekt von Relevanz ist, mag dahingestellt bleiben, und auch der Verfasser lässt Zweifel an einer Transponierung von Methodik der Gegenwartsliteratur in den Kontext mittelalterlicher Texte und Textbezüge erkennen. Dennoch, wohl auch in Ermangelung tragfähiger Alternativen werden partiale Gesichtspunkte in den weiteren Argumentationsgang mit einbezogen. Vor allem aber werden im Rahmen der „Theoretischen Überlegungen II“ Aspekte der Traditionsbildung in den Blick genommen und in diesem Kontext auch (zu) umfangreiche Überlegungen zu Fragen mündlicher und schriftlicher Traditionskultur angestellt.

In diesem Kontext bemüht der Verfasser den Terminus der „Spurensuche“, der gewissermaßen den Überbau für das weitere Vorgehen liefert. Das ist an sich sowohl inhaltlich als auch vom Spannungsaufbau her keineswegs ungeschickt, aber bereits hier scheint es, als verlöre sich die Spur vor lauter Suchen. Und so liest sich auch die Paraphrase zu dieser Herangehensweise eigenartig kryptisch: „Im Gegensatz zu einer Spur, die nicht notwendig einen Ausgangspunkt hat – sie kann sich verwischen, plötzlich enden oder im Kreis laufen – hat jede Spurensuche einen Ausgangspunkt. Dieser liegt beim interpretierenden Subjekt […].“ Unstrittig ist hinsichtlich dieser Ausführungen, dass die Sucherin/der Sucher in der Tat eine Art Ausgangspunkt definiert. Wie sieht es aber mit Blick auf die Aussagen zur Spur aus? Hier ist ein mehrfaches Veto geboten: Die in Gedankenstriche gefassten Parameter haben nichts, aber auch gar nichts mit einem wie auch immer gearteten Ausgangspunkt zu tun, sie beschreiben der Verlauf einer Spur. Und selbstverständlich hat jede Spur ihren Ausgangspunkt, sonst könnte sie gar nicht aufgenommen werden. Es drängt sich hier, aber immer wieder auch bei anderen getroffenen Aussagen, der Eindruck auf, dass unbedingt noch einige Pirouetten gedreht werden sollten, um das Ganze zu veredeln – mitunter jedoch wurde eine Pirouette zu viel gedreht.

Konkreter wird es im Weiteren; die vier Spurensuchen stellen zunächst „Vagantenlieder“ als eine „Sackgasse der Forschung“ infrage, dann werden „Schüler“ zunächst auf ihre „sozialständische Position“ hin untersucht, um dann als „Fahrende“ der „Bewertung (studentischer) Bewegung“ unterzogen zu werden – diese Überschrift übrigens lässt zwar den Clou erkennen, das Weglassen des Artikels jedoch verdirbt das Ganze wieder. Die vierte der Spurensuchen, eine „begriffsgeschichtliche“, betrifft „Lotterpfaffen und varend schůler“ und verbindet die beiden Felder Kirche und Bildung miteinander.

In der ersten Spurensuche wird eine Verbindung zwischen ‚Fahrenden Schülern‘ im Besonderen und ‚Fahrendem Volk‘ im Allgemeinen hergestellt. Konstatiert wird hier die Negativzeichnung beider Gruppen, die von der Zivilgesellschaft der Zeit wenn schon nicht als bedrohlich, doch zumindest als irritierend wahrgenommen und entsprechend dargestellt worden seien. Dass hierbei, insbesondere im konfessionellen Zeitalter, auch die Reisegepflogenheiten insbesondere des mönchischen Klerus in den Blick genommen werden, macht aus der zunächst angeklungenen Dualität eine Trias, die der Verfasser nicht zuletzt als traditionsbedingt und das Ganze demzufolge eher als ein literarisches denn sozialhistorisches Phänomen ansieht. Und selbstverständlich ist nicht alles deckungsgleich, sondern es erweisen sich lediglich Überschneidungen, so der Autor, denn „bei Mönchskritik und ‚Vagantenmythos‘ handelt es sich nur um ein Muster, welches zur Konstitution einer Vorstellung vom Fahrenden Schüler beitrug“.

In der sozialständischen Spurensuche werden nach einigen recht breit gefassten theoretischen Vorüberlegungen mittelhochdeutsche kleinepische Texte in den Blick genommen, die den sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen zum Ende des Mittelalters hin und den daraus resultierenden Rezeptionsgewohnheiten Rechnung trugen. Hier verweist Philip Reich auf eine Position des Schüler-Typus „zwischen Ritter und Pfaffe“, wobei er insbesondere die derberen Aspekte der Stereotype des in jeder Hinsicht unmäßigen Pfaffen in den Mittelpunkt stellt, der bereits gegenüber der hochliterarischen höfischen Epik parodistische Züge trägt, welche dann wiederum auf den Typus des ‚Fahrenden Schülers‘ übertragen werden.

Die dritte Spurensuche, bezogen auf die geographische Mobilität der Schüler, greift die Anbindung an den Bereich des Klerus auf. Hier werden dementsprechend zunächst auch kirchenrechtliche und kircheninterne Aspekte vor allem auch hinsichtlich von Konkurrenz und damit verbundener Polemik zwischen verschiedenen Orden vorgestellt. Vor allem aber hebt Philip Reich auch auf die kircheninternen und -rechtlichen Entwicklungen hin, die er anhand der Salzburger Provinzialsynoden und des Konzils beziehungsweise Hoftags von Würzburg darlegt. Er erweitert diesen um eine „Salzburger Urkundenparodie“ dahingehend, dass von Seiten säkularer Kreise durchaus sublimer Widerspruch geübt wurde, der sich in die allgemeine Kleruskritik einfügte.

Im juristischen Rahmen bleiben auch die unter dem Subtitel „Gelehrtenadel und Randalierer“ zusammengefassten Betrachtungen zum (inner-)universitären Recht, bevor mit der „Mobilität von Schülerfiguren in der mittelhochdeutschen Kleinepik“ die eigentliche Zielgruppe wieder in den Fokus gestellt wird. Da hier zuvorderst schwankhafte Texte betrachtet werden, bietet sich eine Überleitung zur vierten Spurensuche an, unterbrochen allerdings durch die Diskussion des Unterschiedes von migratio und vagatio, also der gewissermaßen ‚erwünschten‘ und der ‚unerwünschten‘ Form wissenserwerbsbedingten Unterwegsseins. Diese als „begriffsgeschichtlich“ überschriebene Suche weist nochmals auf Analogien zwischen dem parodistisch ausgeschlachteten ‚Lotterpfaffen‘ und dem ‚Fahrenden Schüler‘ als Protagonisten in schwankhaften Texten hin. Dass das diese Spurensuchen abschließende „Zwischenfazit“ als eine Verbindung mit dem vorausgehenden zweiten Teil, also dem ersten thematisch relevanten Block dargestellt wird, ist der bereits angeführten Inkonsequenz hinsichtlich der eigentlich naheliegenden chronologischen Abfolge der untersuchten Texte und Informationen geschuldet, und nur durch einige zum an- und abschließenden Schwerpunkt überleitende Zeilen wird der ansonsten unausweichliche Bruch gemieden beziehungsweise abgefedert.

Dieser „Ausblick“ umfasst vier Jahrhunderte, wobei das 18. ausgespart und erst wieder das 19. Jahrhundert untersucht wird. Mit „Konstitution und Transformation im 16. und 17. Jahrhundert“ werden in Fortsetzung der Betrachtung der entsprechenden mittelhochdeutschen Texte zunächst die „kleinepischen Figurenmuster“ in den häufigen und dank der Erfindung und Etablierung des Buchdrucks weit verbreiteten Kompilationen solcher Literaturstücke vorgestellt, bevor dann Hans Sachs gewissermaßen als Erfinder des in der Folge vielfach kolportierten Typus des ‚Fahrenden Schülers‘ auf den Plan tritt. Dabei, so führt Philip Reich unter Bezugnahme auf die Forschungsdiskussion aus, habe der Nürnberger Meistersinger zwar in großem Maße auf die Fastnachts- und allgemeine Schwankliteratur der Reichsstadt zurückgegriffen, diese aber in vielerlei Hinsicht geglättet und die oft anstößigen Texte in einen didaktischen Duktus übertragen. Dennoch ließen sich gerade im Kontext der Sachs’schen Aneignung Kodifizierungsmuster erkennen, die hinsichtlich einer zumindest ambivalenten Darstellung und Wertung der ‚Fahrenden Schüler‘ vorhandene Stereotype aufgegriffen, verdichtet und somit gewissermaßen eine fortdauernde Rezeptionstradition begründet hätten.

Mit dem Phänomen „Fahrende Schüler als Zauberkünstler in volkstümlicher und gelehrter Tradition“ begibt sich der Verfasser auf ein zeitlich wie thematisch breit angelegtes Feld, das von wohl tatsächlich ursprünglich mündlicher Überlieferung zauberischer Praktiken (fahrende Schüler als Schatzgräber und magisch Kundige), über diesbezügliche Notizen in Chroniken und juristischen Akten bis hin zur Thematisierung in „gelehrter Tradition“ reicht. Letzterer Aspekt wird inkonsequenterweise bereits vor der eigentlichen Betrachtung unter dem Punkt „Selbstzeugnisse von Gelehrten als narrative Selbstdarstellung“ aufgegriffen. In Zusammenhang mit dieser gelehrten Tradition geht es vornehmlich um die Verarbeitung des Faust-Sujets; herangezogen werden unter anderem Conrad Gessner, Johann Fischart, Martin Crusius sowie Georg Rudolf Widmann, wobei hier der Umfang recht übersichtlich erscheint.

Dass demgegenüber das gesamte 17. Jahrhundert (bezogen insbesondere auf die Werke Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens) noch knapper abgehandelt wird und auch ein Resümee fehlt, mag verblüffen, wirkt aber auch nicht wirklich überraschender als der Umstand, dass dem 18. Jahrhundert kein eigenständiges Kapitel zugestanden wird. Dabei wird es tatsächlich nicht übergangen, sondern umfasst – einschließlich übrigens eines Hinweises auf den Bettelstudenten von Paul Weidmann – lediglich einen Absatz, der den Ausführungen zur Tradierung des ‚Fahrender-Schüler-Motivs‘ im 16. Jahrhundert zugeschlagen ist.

Eher kurz bemessen sind auch die Ausführungen zum 19. Jahrhundert, in denen etwa (gemessen an der auch von Philip Reich betonten Relevanz wirklich äußerst knapp) die Wiederentdeckung der Carmina Burana, vor allem aber die Thematisierung der ‚Fahrenden Schüler‘ in den Romanen der Romantik (Clemens Brentano, Achim von Arnim oder Ludwig Uhland) sowie Liedersammlungen (vor allem Victor von Scheffel) untersucht werden. Knapp 30 Seiten für ein ganzes Jahrhundert? Das ist – gemessen an dem damit implizit verbundenen Anspruch – in der Tat äußerst wenig, noch dazu, weil Philip Reich der Vorstellung des langen 19. Jahrhunderts insofern Rechnung trägt, als auch die Liedtradition der sich Anfang des 20. Jahrhunderts formierenden Bündischen Jugend in kürzester Form in die Betrachtungen einbezogen wird.

Für das 19. Jahrhundert konstatiert werden kann, so der Verfasser, eine deutend-angewandte Rezeption bezüglich der ‚Fahrenden Schüler‘ authentischer (und gelegentlich wohl auch konstruierter) Tradition, „die das eigene Handeln legitimiert“, indem die „Patina des erhabenen Alten“ darübergelegt wird. Eine ernüchternde Schlussfolgerung, die dieses Großkapitel auch abschließt, ohne dass ein echtes Fazit gezogen wird.

Dieses folgt für die Gesamtpublikation auf den sechs anschließenden Seiten, nachdem dort zunächst in einer „Zusammenfassung“ nochmals die drei Ebenen (oder Varianten?) der von ‚Fahrenden Schülern‘ durchlebten und/oder durchlittenen Prekarität aufgeführt und erläutert wurden. Das Fazit endet wiederum mit einem Zitat aus Thomas Manns 1947 erschienenem Roman Doktor Faustus; zuvor wird allerdings noch einmal der Spannungsbogen zwischen historischer Wirklichkeit und ihrer literarischen Adaption bemüht, wenn über das Phänomen der „Gesellschaftsbilder“ räsoniert wird. „Diese […]“, so Philip Reich, „formieren sich in einem Prozess zirkulärer Implikation zwischen (literarischen) Texten und (realen) Praktiken. Die Muster hingegen sind das Resultat literarischer Traditionen.“ So wird es wohl sein.

Das gewaltige Werk besticht zweifellos durch Opulenz, die sich unter anderem in einem knappen, aber angenehm inhaltsorientierten Abbildungsteil, einem der Nutzung zuträglichen Register und auch einer umfangreichen Bibliographie niederschlägt. Sie zeigt sich aber auch in einem weniger schönen Phänomen, das analog zur aus der Astronomie bekannten leeren Vergrößerung ist. Diese zeigt sich darin, dass aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen wie etwa Objektivdurchmesser oder auch einfach atmosphärischer Unruhen die Trennschärfe mit der Vergrößerung nicht Schritt halten kann, jene darin, dass mitunter viele der Ausführungen eben nicht wirklich themenbezogen beziehungsweise so allgemein gehalten sind, dass sie den Kern der Gedanken verfehlen.

Es ist immer schwer, das eigene Gedankengebäude um das eine oder andere Stockwerk zu reduzieren, aber dies sowie eine Umstellung der Gliederung respektive der jeweiligen Themenkomplexe hätten dem Buch sicherlich gutgetan. Allein der Umstand, dass der vierte Teil so knapp bemessen ist, ließe an einen ‚Rollenwechsel‘ vom „Ausblick“ zu einer Hinführung denken, auf deren Basis (wie es in der Einleitung auch anklingt) die weiteren Gedankengänge hätten ausgeführt werden können. Und wenngleich bei Drucklegungen der Basissockel den asymmetrisch höchsten Anteil stellt, wäre dann vermutlich der Verkaufspreis für Interessierte auch leichter zu stemmen gewesen. So bleibt, eine generell interessante Publikation zu konstatieren, die zwar spannende Perspektiven eröffnet, die aber im Allgemeinen und hinsichtlich ihrer Lesezugänglichkeit im Speziellen noch großes Optimierungspotenzial aufweist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Philip Reich: Der fahrende Schüler als prekärer Typus. Zur Genese literarischer Tradition zwischen Mittelalter und Neuzeit.
De Gruyter, Berlin 2021.
VII, 712 Seiten, 109,95 EUR.
ISBN-13: 9783110708073

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