Vor dem Aufbruch

Johannes Janota stellt die „Perikopenlieder Michel Beheims“ und damit „Bibelversifikationen im vorreformatorischen Sangspruch“ vor

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zeiten, in denen hierzulande einerseits die in den Amtskirchen organisierte Religiosität immer weniger Zuspruch erhält, andererseits neben der Präsenz nichtchristlicher Religionen auch ein vielleicht sogar im Allgemeinen ansteigendes Interesse an wie auch immer gearteter Spiritualität zu konstatieren ist, ist die ohnehin hypothetische Frage nach dem modernen Erfolg eines Analogon zu Textsorten wie Perikopenliedern schwer bis gar nicht zu beantworten. So mag es einerseits sein, dass derlei biblische Tradition am ‚Markt‘ vorbeiginge – oder vielleicht gerade aufgrund des vom Spätmittelalterlich-Frühneuzeitlichen auch heute noch ausgehenden Appeals auf breites Interesse stieße.

Michel Beheim hatte diese Sorgen nicht, betrat aber insofern mit seinen Perikopenliedern unsicheren Grund, als die Akzeptanz dieser sozial im auch kulturellen Aufstieg des städtischen Bürgertums verankerten Erweiterung tradierter Bibelrezeption und damit auch ihr Erfolg nicht selbstverständlich waren. Diesem zeitgenössischen Feld der Bibelversifikation widmet sich Johannes Janota in der vorliegenden Publikation.

Wie es häufig im Laufe der Menschheitsgeschichte der Fall ist: Mitunter werden die Ergebnisse des Visionären erst in späteren Kontexten zutage treten beziehungsweise in konstruktivem Sinne wirkmächtig. Für Michel Beheim gilt dementsprechend genau das, was auf der vierten Umschlagseite des Werks zusammenfassend vermerkt ist:

Erstmals in der deutschen Literaturgeschichte dichtete Michel Beheim in größerer Anzahl Perikopenlieder, welche die Evangelienabschnitte textnah versifizierten. Das zukunftsweisende Potential dieses neuen Liedtyps wurde von Beheims höfischem Publikum, das bis zum Kaiserhof in Wien reichte, jedoch nicht erkannt. Erst bei den städtischen Meistersingern ab Hans Sachs reüssierte das Perikopenlied zu einem festen Liedtyp – nunmehr im Dienst der Reformation.

Damit sind, vice versa, sowohl die Leitlinien dieser Textsorte als auch deren Potential und Entfaltungsraum nicht nur skizziert, sondern nachgerade fundamentiert. Offenbar war die einerseits schrifttreue und andererseits pädagogische Ausrichtung der Perikopenlieder sozial wie theologisch allenfalls bedingt mit der höfischen Welt einerseits, der katholischen Orthodoxie andererseits kompatibel. Und obgleich Michel Beheim sich am altüberkommenen Traditionsschema kirchlich-katholischer Überlieferung orientierte, transportierten seine Texte bereits den Geist des Neuen, das sich sukzessive so weit vom Altüberkommenen entfernte, dass schließlich ein eigenständiges theologisches Phänomen, das der Reformation nämlich, ihren Ausdruck finden konnte.

Dass Beheim, wenngleich mit deutlich weniger Belegen, auch noch in nachreformatorischer Zeit rezipiert wurde, wie Johannes Janota in seinem knappen Kapitel zur Textüberlieferung belegen kann, macht die Qualität seiner Perikopenlieder deutlich. Überraschend ist dann allerdings der Umstand, dass der bereits erwähnte Hans Sachs offenbar keine Kenntnis der Lieder seines ‚Vorgängers‘ hatte. Johannes Janota zollt dementsprechend dem Nürnberger Meistersinger, der wohl lediglich auf zehn Versifikationen zurückgreifen konnte, seinen Respekt, denn es „lässt dieser Befund die Leistung von Hans Sachs als Begründer der textnahen Bibelversifikationen in der Reformationszeit und seine Erneuerung des Meistersangs durch die Etablierung der Bibelversifikation aus dem Geist der Reformation in umso hellerem Licht erscheinen“.

Johannes Janota geht es in dieser Publikation gleichwohl nicht um Hans Sachs, sondern um Michel Beheim. Bemerkenswert ist schon allein, dass von Beheim immerhin 68 Perikopenlieder erhalten sind, wobei aufgrund der Stringenz der Texte davon auszugehen ist, dass diese Überlieferung weitgehend vollständig ist. Aber: Der Bestand der anderen vorreformatorischen Perikopenlieder, darunter eben auch jene, von denen Sachs Kenntnis hatte, beläuft sich auf lediglich 22 Texte; Beheim schuf mithin mehr als das Dreifache. Und wenngleich er vor der konfessionellen Spaltung wirkte und sein Œvre offenbar wohl auch weitgehend unbekannt blieb, war er insofern ‚reformatorisch‘, als er seine Bibelversifikationen bis auf eine Ausnahme ausschließlich auf die neutestamentliche Überlieferung bezog. Und die Kontextualisierung dieser Lieder in die Gottesdienstordnung zeigt auf, wie künstlerische Ästhetik aus dem Wunsch heraus generiert wurde, glaubenspragmatischen Aspekten in verdichteter und gleichwohl attraktiver Weise gerecht zu werden.

Johannes Janota baut seine Untersuchungen zu den Perikopenliedern Beheims auf vier Säulen auf. Nach einer knappen Einleitung und einem Abriss zur Überlieferung der Texte Beheims sind dies die Blöcke: „Bibelversifikationen und Perikopenordnung“, „Zu den Tönen und Tonkorpora “, „Zu den Vorlagen der Perikopenlieder“ sowie „Zur Textnähe der Perikopenlieder“. Der Umfang dieser Großabschnitte ist jeweils unterschiedlich, wobei die „Bibelversifikationen“ und die „Vorlagen“ mit etwas über 20 Seiten am knappsten gehalten sind; „Töne[…] und Tonkorpora“ sowie „Textnähe“ liegen bei jeweils um die 40 Seiten. Gemessen an der Bedeutung und auch dem Überlieferungsumfang der Lieder Michel Beheims mag das wenig erscheinen, aber es sei vermerkt, dass Janotas Stil von angenehmer Schnörkellosigkeit geprägt ist, was nicht nur dem Thema sehr zugutekommt – sind doch auch Leserinnen und Leser nicht darauf verwiesen, unentwegt Relevantes aus weniger Relevantem herauszufiltern. Mit dem 20 Seiten umfassenden Kapitel „Zwischen Spätmittelalter und Reformation“ wird ein sowohl text- als auch geistesgeschichtlich interessanter Schauplatz erschlossen, auf dem aus Meta-Sicht Anknüpfungen zwischen Werk und Zeit Beheims und der nachreformatorischen ‚Meistersinger-Dichtung‘, hier insbesondere Hans Sachs, gut erkennbar sind, obwohl es diese realiter gar nicht gab.

Diesem Auslaufkapitel gehen nun, wie soeben ausgeführt, vier explizit auf das Perikopenlieder-Werk Beheims an der Wende zur Neuzeit bezogene Themenblöcke voraus. Im ersten dieser Hauptpunkte weist der Verfasser anhand der überlieferten Texte zunächst nach, dass Michel Beheim allein schon insofern mit der Tradition liedhafter Bearbeitungen biblisch-kirchlicher Inhalte brach, als er darauf bedacht war, textnah zu dichten, das heißt so eng wie möglich der biblischen Vorlage verbunden zu bleiben. Daraus ergab sich mit nachgerade zwingender Konsequenz der weitgehende Verzicht auf den Bezug zu auslegenden Texten – ein weiterer Bruch mit traditionellen volkssprachlichen Bibel-Vermittlungen.

Auffällig, so Johannes Janota, ist auch die Konzentration auf den Weihnachts- und Osterfestkreis, die nahelege, dass Michel Beheim darauf bedacht war, Komplexes zu schaffen und sich nicht in Einzelaspekten des Kirchenjahreskreises zu verlieren. Dieser Ansatz, so der Verfasser weiter, mache – flankiert durch einzelne Anmerkungen – wahrscheinlich, dass Beheim beabsichtigte, zu diesen beiden Festkreisen ein komplettes Perikopenliederwerk zu schaffen, ja sein großes Ziel gewesen sein könnte, das komplette Kirchenjahr in dieser Form aufzuarbeiten.

Die Umsetzung, das ist der Inhalt der „Töne und Tonkorpora“, erfolgte in von Beheim selbst angelegten Tönen: Frühe Töne (Kurze Weise, Slegweise, Lange Weise) und Spätere Töne (Hofweise, Slecht guldin Weise, Zugweise, Verkehrte Weise, Gekrönte Weise, Trummetenweise, Osterweise, hohe guldin Weise, Angstweise). Da er ein Dutzend dieser „artifiziellen Töne“ schuf, wäre womöglich die Einordnung als ‚Zwölftonmusik ersten Grades‘ nicht ganz abwegig – und tatsächlich sind die Entwicklungsideen beider Systeme ähnlich, obwohl die Grundlagen vollkommen unterschiedlicher Natur sind. Auch hat Michel Beheim seine zwölf Töne nicht in Gänze im religiösen Kontext eingesetzt. Für seine Perikopenlieder beschränkte er sich auf lediglich acht seiner Töne; anscheinend waren diese für die Anwendung im Kontext liedhafter Vermittlung biblischer Texte am besten geeignet.

In diesem Zusammenhang macht Johannes Janota auch deutlich, warum Michel Beheim seine ambitionierten Vorstellungen nicht zu realisieren vermochte: Die Töne (und auch der enge Bezug zum biblischen Text) entsprachen nicht dem Zeitgeschmack, der eher auf leicht erschließbare Erbauung ausgerichtet war. Und da Beheim als Berufskünstler eben diesen Markt bedienen musste, ließ er anscheinend in seinen späteren Jahren die Arbeit am Perikopenprojekt ruhen und konnte auch keine Schule gründen.

Im dritten Abschnitt, in dem es um die Vorlagen der Perikopenlieder Beheims geht, greift der Autor nur knapp die bislang gemachten Vorschläge auf. Er verweist dabei auf fruchtbare Ansätze, die aber mehrheitlich eine letzte Gewissheit nicht bringen können, sodass Janota die Frage nach den Erfolgsaussichten einer solchen Suche aufwirft. Diese seien zwar grundsätzlich gegeben, allerdings verbunden mit der Gefahr, in einem Graubereich zu enden. Dennoch sieht Janota es als am wahrscheinlichsten an, dass sich Beheim unmittelbar an der Primärquelle bediente, sodass es sinnvoll sei, „direkt auf die Vulgata zurückzugreifen, wenn man klären möchte, wie textnahe Beheim die Perikopen in seinen Liedern versifiziert hat“.

Die Art und Weise der Textnähe, die durch ihren direkten Bezug auf die Bibel in der Vulgata-Lesart gegeben ist, nimmt der Verfasser dann im Abschnitt „Zur Textnähe der Perikopenlieder“ in den Blick. Hier werden nochmals (arbeits-)biographische Aspekte zu Michel Beheim in den Raum gestellt, aber auch ein Blick auf die Rezeptionsgemeinschaft der spätmittelalterlichen Gesellschaft gelenkt. Dabei werden Parallel- beziehungsweise Vorgängerdichtungen in den Blick genommen, wobei hier nur Weniges der Textnähe der Beheim’schen Lieder nahekommt. Vor allem aber wird der Fokus noch einmal auf die erstaunlich nahe ‚Nicht-Nähe‘ zwischen Michel Beheim und den Meistersingern der Reformationszeit gerichtet. Und so schließen die Ausführungen Johannes Janotas zu „Spätmittelalter und Reformation“ mit einem ebenso faszinierenden wie irritierenden Fazit:

Wegen Beheims merkwürdiger Isoliertheit trotz oder wegen seiner Stellung als ehemals des kaisers tichter fand er keine erkennbare Resonanz in der Liedkunst seiner Zeit und damit auch keine Nachwirkung bei den Meistersingern […]. So bleibt Beheim […] eine einsame Gestalt in der Literaturgeschichte zwischen ausgehendem Mittelalter und Reformationszeit.

Dem ist wenig hinzuzufügen. Abschließend sei noch auf die kurze, aber aufgrund ihrer Verdichtung höchst informative Zusammenfassung zu verweisen. Eine knappe Bibliographie, vor allem aber auch das mehrfach aufgegliederte Register erweitern die handliche Publikation hin zu einem Vademecum für die weitere Beschäftigung mit der Person und dem Sujet. Auch wenn das vorliegende Buch keine Werkausgabe oder Teilausgabe des Beheim’schen Œvres darstellt, wird genügend Textmaterial geboten, um den schematischen, aber letztlich auch inhaltlichen Argumentationen Johannes Janotas folgen zu können. Es erschließt sich ein im allgemeinen Bewusstsein wenig bekannter Kosmos von Rezeption und konstruktiver Vermittlung biblischer Texte, der beides erschließbar macht – das Interesse eines breiteren Publikums an biblischer Erzähltradition und die adäquate Weise, diesem Interesse angemessen Rechnung zu tragen.

Zu guter Letzt, sekundäre Sentimentalität des Rezensenten hin oder her: Die Einleitung allein macht deutlich, warum das Buch des mittlerweile verstorbenen Autors unbedingt lesenswert ist. Dort heißt es: „Der Kreis schließt sich. Seinen Anfang nahm er vor mehr als sechs Jahrzehnten, als mir Hanns Fischer die geistlichen Lieder des Mittelalters als Dissertationsthema vorschlug. Den Schlusspunkt setzen jetzt die Perikopenlieder des Michel Beheim.“ Es bleibt indes zu hoffen, dass hier das letzte Wort noch nicht geschrieben und vielleicht – von anderer Seite – doch noch eine Coda zu erwarten ist.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Johannes Janota: Die Perikopenlieder Michel Beheims. Bibelversifikationen im vorreformatorischen Sangspruch.
Schwabe Verlag, Basel 2021.
197 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783757400606

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