Die Macht des Schicksals

Im Alter von 77 Jahren ist der große amerikanische Schriftsteller Paul Auster verstorben

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Die literarische Laufbahn Paul Austers hätte eigentlich ganz anders laufen können, wäre der diese Woche im Alter von 77 Jahren verstorbene amerikanische Schriftsteller bei seiner ursprünglichen Absicht, Lyriker zu werden, geblieben. Oder hätte er den Weg der literarischen Postmoderne, den er in seinem Romandebüt The New York Trilogy beschritten hat, konsequent weiterverfolgt. Oder wäre er einfach, völlig verarmt, eines Tages zu der Einsicht gelangt, dass der romantische Traum vom Hunger darbenden, aber voller Inspiration schreibenden Dichter es dies nicht wert ist und es vielleicht besser sei, sich einen Brotjob zu suchen.

In seinem vorletzten Roman 4 3 2 1, der eigentlich aufgrund seines Charakters der Lebensbeichte, sein letzter hätte sein müssen, spielt Auster genau diese Möglichkeiten durch: vier verschiedene, an vier Leben langerzählte Schicksale derselben Person – von denen die zweite Inkarnation des Protagonisten schon im Kindesalter stirbt und im Laufe des über 1000seitigen Buches mittels einer leeren Seite eine stets präsente Abwesenheit suggeriert.

Abwesenheit war eines der großen Themen Austers. Sein Prosa-Debüt war nicht die New York Trilogy, sondern ein vielbeachtetes, essayistisches Buch über seinen verstorbenen Vater, eine berührende biographische Skizze namens Die Erfindung der Einsamkeit mitsamt eines wehmütigen Porträts eines „unsichtbaren Mannes“. Erst nach dem Kritikererfolg war für Auster der Weg frei, ein Romanautor zu werden, wohl auch aus finanziellen Erwägungen und im relativ hohen Alter von fast 40 Jahren. Jahrelang hatte der ehemalige Komparatistik-Student versucht, als Lyriker und Übersetzer französischer Lyrik Fuß zu fassen, getrieben von einem romantischen Ideal, das er viele Jahre später in der berührenden autobiographischen Schrift Die Kunst des Hungers eindringlich beschrieben hat. Diese Jahre des Hungerns und des Misserfolgs haben ihn stark geprägt; seine (sehr früh geschlossene) Ehe zerbrach; er lernte aber die angehende Schriftstellerin Siri Hustvedt kennen, mit der er bis an sein Lebensende eine scheinbar glückliche und künstlerisch fruchtbare Ehe geführt hat.

Die New York Trilogy gilt als Referenzwerk der amerikanischen literarischen Postmoderne. Sie besteht aus drei zunächst unabhängig scheinenden (und teilweise auch nacheinander publizierten) Einzelromanen, die aber wie magisch miteinander verwoben sind. Es geht um Abwesenheit, Verschwinden, Doppelgänger, die Bedeutung von Eigennamen, ja im Grunde um die Identitätsfrage an sich. Und um die Rolle, welche die Literatur in unserem Leben spielt. Also um die Themen, die Auster ein Leben lang umtreiben würden. Es ist ein überwältigendes Werk, das komplex und unterhaltsam zugleich ist (was ja ein Desiderat der verspielten amerikanischen Postmoderne war) und das Generationen von Schriftstellern von Bret Easton Ellis über Daniel Kehlmann bis hin zu Roberto Bolano geprägt hat.

Es gibt auch eine traurige Anekdote rund um die New York Trilogy, die – ganz im Sinne Borges‘ – wie ein Übertritt der postmodernen Erzählstruktur ins wahre Leben erscheint. In einer Szene spürt der unwillentlich zum Detektiv gewordene Quinn eine Person namens Paul Auster auf, um die sich ebenfalls ein Doppelgänger-Plot entfaltet. Dieser Auster stellt sich unerwartet als New Yorker Schriftsteller heraus, der mit seiner blonden, hübschen Frau und seinem kleinen Sohn aus erster Ehe in einem Brooklyner Apartment wohnt und Quinn nach seiner Suche nach dem (im Roman) „echten“ Paul Auster nicht behilflich sein kann, aber ein kurzes Gespräch mit ihm führt. Quinn (der wiederum eine Spiegelung des echten, frühen Auster ist) neidet dem Schriftsteller sein harmonisches, schönes Leben mit diesem quirligen Kind, das ihn wehmütig ob seiner eigenen verpassten Chancen im Leben werden lässt. Quinn ist natürlich, wie die Varianten in 4 3 2 1, eine Möglichkeit, wie Paul Austers Leben hätte verlaufen können. Doch viele Jahre später wird ebendieser Sohn, der wie im Roman Daniel heißt, im Drogenrausch seinen Säugling mit Heroin injizieren und töten, um Monate später selbst tot aufgefunden zu werden. Als diese Nachricht vor wenigen Jahren durch die Boulevardmedien ging, fühlte man sich schmerzhaft an den kleinen Daniel aus der New York Trilogy erinnert, der dem Leser als Teil einer idealen Schicksalsvariante angeboten wird.

Für Paul Auster jedenfalls war der (eigentlich unwahrscheinliche) internationale Erfolg die Startrampe zum Weltruhm, der ihm vor allem in Europa zuteil wurde, während man in seiner amerikanischen Heimat immer ein wenig kritisch auf den Starautor blickte. Vielleicht hat er sich das auch selbst zuzuschreiben. Auster nämlich wandte sich ziemlich radikal von seiner experimentellen Schreibweise ab, verfasste zunächst die halbgare Dystopie Im Land der letzten Dinge, den episch erzählten Roman über die Macht des Zufalls Mond über Manhattan (den Freunde eher realistisch erzählter Prosa für sein eigentliches Meisterwerk halten) und die Kafka-Pastiche Die Musik des Zufalls, sein vielleicht am meisten unterschätztes Werk. Es ist ein Roman, der in zwei radikal unterschiedliche Hälften aufgeteilt ist. In der ersten, erzählt im Stile eines Road-Movies, verlieren die beiden als Protagonisten fungierenden Tagediebe gegen skurrile Milliardäre ein Pokerspiel, womit sie sich verpflichten, „Arbeiten“ zu erledigen. Diese Arbeit besteht im zweiten, kafkaesken Teil aus dem völlig sinnbefreiten Bau einer Mauer. Ein für viele Leser unvollendet erscheinendes, aber gerade deswegen faszinierendes Werk, denn man bedenke, dass Der Process und Das Schloss auch nur Fragmente geblieben sind.

In den 90er Jahren folgte eine kreative Durststrecke für Auster, denn weder der politische Roman Leviathan noch der aus Hundeperspektive erzählte (wohl schwächste) Auster Roman Timbuktu konnten überzeugen. Mr. Vertigo verfolgt die interessante Grundidee eines Zirkuskinds, welches das Schweben erlernt, doch wirkt das Buch abgehackt und unfertig. Der Versuch, mit zwei kurzen Novellen wieder die postmodernen Identitätskrisen der frühen Prosa heraufzubeschwören, scheiterte ebenfalls.

Wer Auster nach dieser künstlerisch schwierigen (aber kommerziell noch einträglichen) Phase im Angesicht seiner kontinuierlich verflachenden Romane abgeschrieben hatte, sah sich Anfang des neuen Jahrtausends von einem fulminanten künstlerischen Befreiungsschlag überrascht. Das Buch der Illusionen ist sein heimliches Meisterwerk, weil der Roman um die Suche eines Akademikers nach einem verschwundenen Stummfilmstar kongenial die Auster‘schen Themen um Identitätskonflikte und das Verschwinden in eine philosophische Betrachtung um das Ende der Stummfilm-Ära, ja um die Ästhetik des Films im Allgemeinen packt. Und trotzdem liest sich der Roman wie ein spannender Krimi. 

Als am 11. September 2001 die Flugzeuge ins World Trade Center flogen, wusste auch Auster wie viele seiner Kollegen nicht, wie er schriftstellerisch darauf reagieren könnte. Viele verstummten, Auster machte das Verstummen und die Ratlosigkeit zum Thema in seinem seltsamsten, gleichzeitig aufgrund seiner Unfertigkeit faszinierendsten Roman Nacht des Orakels. Der Roman funktioniert wie eine Matroschka-Puppe, erzählt Geschichten in Geschichten in Geschichten, bis man an einen Punkt kommt, aus dem es kein Weiter mehr gibt. Auster wollte damit möglicherweise seine Ohnmacht im Angesicht des Attentats darstellen, dass er als Schriftsteller nicht wusste, wie es weitergehen soll, dass man Geschichten nicht mehr fertigerzählen kann.

Aber er konnte weitererzählen. Mehr noch: Auster hatte sich im Jahr 2003 als Schriftsteller konsolidiert. Er veröffentlichte fortan Roman um Roman, alle irgendwie lesenswert und unterhaltsam, manchmal sogar klug und weise, alle im selben amerikanischen Schreibschulenduktus verfasst (den er, um ehrlich zu sein, maßgeblich mitgeprägt hat), alle aber irgendwie auch austauschbar. Die wenigsten Leser werden sich genau an die Handlungen oder Figuren von Sunset Park oder Unsichtbar erinnern. Er schrieb aber im Herbst seines Lebens unter anderen essayistischen Schriften auch zwei bemerkenswerte Autobiographien – Winter Journal und Bericht aus dem Inneren –, in denen er Erinnerungen zum einen in Bezug auf den Körper, zum anderen in Bezug auf den Geist darlegt. Auch den großen Lebenstraum einer voluminösen Biographie seines großen literarischen Vorbilds Stephen Crane erfüllte er sich noch.

Wie ein Monolith steht allerdings der Roman 4 3 2 1 am Ende von Austers schriftstellerischer Laufbahn. Ein Buch, dessen Ambition wohl größer war als das eigentliche Ergebnis – so zumindest die Meinung vieler Kritiker –, aber ist es bei großen Kunstwerken nicht immer so? Jedenfalls erzählt 4 3 2 1 von vier verschiedenen Leben der gleichen Person, die der Person Paul Auster in Vielem ähnelt. Die wiederkehrenden Themen rund um die Frage nach der eigenen Identität, welche die Literatur des Amerikaners beherrschen, tauchen hier in ähnlicher Form wieder auf. Aber auch Figuren und Geschichten treffen wir wieder. Eine ist dabei besonders prägnant: Wie in Interviews und autobiographischen Schriften schon öfter erzählt, starb ein enger Freund Austers, als die beiden als Kinder während eines Sturms draußen spielten; der Freund wurde elektrokutiert, während der nebendran stehende Paul überlebte. Dieses traumatisierende Ereignis verarbeitet Auster etwa in 4 3 2 1, indem es der Protagonist selbst ist, der den tödlichen Schlag erhält und dessen Seiten im Laufe der über 70-jährigen Leben (ein anderer Protagonist stirbt auch etwas früher) der anderen Identitäten leer bleiben.

Nun werden auch die Seiten Austers in Zukunft leere Seiten sein, und man fragt sich, wie viel von diesem Schriftsteller bleiben wird, dessen literarisches Schaffen von zwei epischen Meisterwerken gerahmt wird (plus, als Epilog, der 2023 veröffentlichte Kurzroman Baumgartner, indem es bereits angesichts seiner Krankheit ums Sterben geht) und das immer wieder (in den Augen einiger Kritiker etwas zu oft) um die immer gleichen Themen kreist. Aber es sind nun mal existenzielle Themen.