Exotismus – literaturhistorischer Ausschuss oder postkoloniale Lebenskunst? Ein Sammelband behandelt „Exotismen in der Kritik“

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der angelsächsisch geprägten postkolonialen Kritik gilt der Exotismus heute als imperialistische Ästhetik, die nur noch historisches Interesse verdient. Doch von Exotismus im Singular kann zunächst keine Rede sein. Abzugrenzen wären geographische Varianten wie Afrikanismus und Amerikanismus, Pazifikismus und Orientalismus, Tropen- und Poloarexotismus. Dann ließe sich auch unterscheiden zwischen einem Exotismus der Vergangenheit und der Zukunft. Der sexuelle Exotismus ist vor allem in der Diskussion des Ozeanismus in die Kritik geraten, da er im Zusammenhang mit der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten in der südpazifischen Inselwelt zu einer demographischen Katastrophe geführt hat.

Der Sammelband Exotismen in der Kritik geht auf eine Veranstaltungsserie zurück, die zwischen 2019 und 2023 von der japanisch-deutschen Forschungsgruppe ‚Kulturkontakte‘ an der University of Tokyo, der Nihon University und an der Sophia University ausgerichtet worden ist. Er ist Ausdruck einer Kooperation zwischen der Germanistik in Japan und einer internationalen Germanistik, die sich auch der Förderung des akademischen Nachwuchses verpflichtet fühlt. Das Projekt versammelt neben ausgewählten Aufsätzen aus Japan auch Beiträge aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und den USA.

Vorangestellt ist eine begriffsgeschichtliche Studie, die im Unterschied zur bisherigen Forschung zeigt, dass der Exotismus bereits während der Goethezeit ein mit positiven Konnotationen besetztes Gegenkonzept zu der vom nationalen Lager um Fichte verworfenen ‚Ausländerei‘ bildete. Während der Exotismus in Deutschland im Gefolge der Nietzsche-Rezeption der Kritik verfiel, konnte sich in Frankreich in der Tradition von Victor Segalen ein antihermeneutisch ausgerichteter Exotismus als Lebenskunst etablieren, der Alterität auch in ihrer Unverständlichkeit stehen zu lassen vermag. Dieser Ansatz führte zum Plädoyer Jean Baudrillards für einen ‚radikalen Exotismus‘, mit Auswirkungen bis hin zur postkolonialen Ästhetik von Édouard Glissant, die eine Kreolisierung feiert und den Anderen ein Recht auf Opazität zugesteht.

Die Reihe der im Band vorgestellten und bereits klassischen Repräsentanten des literarischen Exotismus reicht von Pierre Loti über Robert Müller und Willy Seidel zu Hermann Hesse. Emil Nolde und Max Pechstein werden als Vertreter des Exotismus in der Malerei präsentiert. Die pseudoanthropologische Kolportageliteratur während der Nazizeit wird konfrontiert mit der Ethnopoetik Hubert Fichtes als einer Verteidigung des Exotismus.

Aus japanischer Perspektive dürfte von Interesse sein, dass sich gleich zwei Beiträge mit dem Einfluss des europäischen Exotismus von Stevenson, Loti und Gauguin auf Hijikata Hisakatsu und Nakajima Atsushi beschäftigen. Darüber hinaus enthält der Band eine kritische Würdigung des Japonismus der slowenisch-deutschen Schriftstellerin Alma Karlin und Überlegungen zur Demontage von Japonismen in Krachts Roman Die Toten.

Ein Beitrag zu Ingeborg Bachmann zeigt, dass ihr ambivalenter Afrikanismus bereits auf postkoloniale Positionen vorausweist. Die performative Dekolonisierung exotistischer Stereotype ist das Thema von Auseinandersetzungen mit der Flüchtlingsthematik auf deutschen Bühnen und mit Videos der Band Rammstein.

Vor dem Hintergrund der theoretischen Reflexionen des Exotismus, die im Band anhand einer Reihe von Autoren wie Lévinas, Lévi-Strauss oder François Juillen angestellt werden, wird deutlich, dass es vor allem die Fallstricke des Ethnozentrismus sind, die es im exotistischen Umgang mit Alterität zu vermeiden gälte.

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Titelbild

Rolf Parr / Thomas Schwarz (Hg.) / Mechthild Duppel-Takayama: Exotismen in der Kritik.
Brill | Fink, Paderborn 2023.
416 Seiten , 79,00 EUR.
ISBN-13: 9783770567751

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