Laura Leupi buchstabiert in ihrem «Alphabet der sexualisierten Gewalt» körperliche Übergriffe

Eine Erzählerin berichtet von einer Vergewaltigung und versucht das Geschehen zu systematisieren. Es könnte ein Weg sein, um das Trauma zu bewältigen.

Rainer Moritz 3 min
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Lara Leupi hat ein gedankenreiches, fruchtbar provozierendes Buch geschrieben.

Lara Leupi hat ein gedankenreiches, fruchtbar provozierendes Buch geschrieben.

Claude Bühler

Das ist ein mutiges Buch. Zumal eines – dafür ist man heutzutage dankbar –, das eine präzise Form für das sucht, was erzählt werden soll, und sich mit den auf der Hand liegenden Lösungen nicht zufriedengibt. Die 1996 in Zürich geborene Laura Leupi erregte mit ihrem «Alphabet der sexualisierten Gewalt» im vergangenen Jahr Aufsehen, als sie Auszüge daraus beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb las und den 3sat-Preis erhielt.

Auf den ersten Blick sorgt in ihrem Text, den als Roman zu bezeichnen verfehlt wäre, das Alphabet für verlässliche Ordnung, für eine Struktur, die für jeden Buchstaben von A bis Z wenige, meist kurz kommentierte Stichworte von «Angst» bis «Zuhause» auflistet. Dazwischengeschaltet sind Prosasequenzen, die von einem weiblichen Ich erzählt werden. Nach und nach schält sich heraus, dass die junge Frau in ihrer frisch bezogenen Wohnung von ihrem Partner vergewaltigt wurde und dass dies den Anlass bildete, den vorliegenden Text zu verfassen.

Offensichtlich ist dabei, dass eine herkömmliche Erzählchronologie eine ganz und gar unpassende Methode ist, um dem Gewaltakt beizukommen. Stattdessen geht es um eine – vom Verlag unnötigerweise «autofiktional» genannte – «Spurensicherung», die sich den Gegenständen der Wohnung, dem Laken, dem Schrank, dem Duschvorhang, in Kreisbewegungen nähert. Unfähig, das Verbrechen selbst in Worte zu fassen, nimmt die Erzählerin Umwege und überträgt ihre Verletzungen auf das, was sie sieht. Daraus entstehen surreale Momente, wenn dem Stuhl Haare wachsen oder die Wände mehr und mehr von Schimmel befallen werden.

Weg mit den Uhrzeigern

Das alles dient dazu, die scheinbare Ordnung, die die lineare Zeit suggeriert, zu durchlöchern. Ja, letztlich ist diese in den Augen der Erzählerin Ausdruck eines «heteronormativen Patriarchats» und gänzlich ungeeignet, ihr Erleben adäquat zu spiegeln: «Ich weiss nicht genau, was ich zwischen 2017 und 2019 getan habe, und ich träume davon, alle Uhrzeiger der Welt in die Luft zu jagen.»

Unterbrochen werden die alphabetischen Eintragungen und die Erinnerungsfetzen durch Reflexionen und Internetrecherchen, die samt und sonders das Thema der sexualisierten Gewalt von verschiedenen Seiten beleuchten. Da geht es um die sprachliche Beobachtung, dass das Wort «Miss-brauch» einen angemessenen «Ge-brauch» voraussetze, als sei nichts dagegen einzuwenden, wenn man Sexualpartner «gebraucht». Da räsoniert das Ich über die mühsame Reform des Schweizer Strafgesetzbuchs, wo männliche Vergewaltigungsopfer lange nicht vorgesehen waren oder man Penis und Vagina als unabdingbare Voraussetzung solcher Gewalttaten ansah.

Da gibt es Ausflüge in die Kunstgeschichte zur Barockmalerin Artemisia Gentileschi, die als junge Frau vergewaltigt wurde und die darauf mit Bildern wie «Susanne und die Ältesten» oder «Judith enthauptet Holofernes» reagierte. Und da werden über mehrere Seiten hinweg die Femizide, über siebzig an der Zahl, aufgeführt, die in der Schweiz zwischen März 2021 und Januar 2024 begangen wurden.

Fruchtbar provozierender Text

Laura Leupi übersieht dabei nicht, dass längst auch Männer Teil der Opferstatistik sind. Zudem beleuchtet sie die gängige Weise, wie über solche Taten gesprochen wird. Und sie fragt, an welches «rape script», das «weisse Weiblichkeit» zu einem «Synonym für Verletzlichkeit» mache, man sich stillschweigend halte. Oder warum in Medienberichten die Opfer ständig das Schweigen zu «brechen» hätten.

So ist dieses «Alphabet» ein bewusst sperriger, anregender Text, der zu einem endlosen wird, weil keine der (Internet-)Suchbewegungen je abgeschlossen sein wird. Natürlich strahlt er die klare Haltung seiner Verfasserin aus, was zwangsläufig dazu führt, dass die Ausführungen mitunter das Bestreben nach ästhetischer und gedanklicher Offenheit konterkarieren und ins Dogmatische verfallen: «Q steht für queer, weil nur Queerness uns retten kann.»

Streiten darf man auch darüber, ob es nötig war, dass Laura Leupi ihrem Buch sehr ausführliche Endnoten und ein üppiges Literaturverzeichnis beifügen musste und warum sie in einem «Epilog» die Genese und die Absicht ihres Textes ausbreitet. Dass das «Alphabet der sexualisierten Gewalt» eine «Collage aus Essays, Google-Suchanfragen, phantastischen Kurzgeschichten und politischen Zaubersprüchen» ist, darauf dürften aufmerksame Leserinnen und Leser auch selbst kommen. Eine Gebrauchsanweisung hat Laura Leupis gedankenreiches, fruchtbar provozierendes Buch nicht nötig.

Laura Leupi: Das Alphabet der sexualisierten Gewalt. März-Verlag, Berlin 2024. 139 S., Fr. 29.90.

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