Skurrile Montagen aus der schriftstellerischen Mottenkiste
Florian Neuners „Die endgültige Totalverramschung“ kann man als augenzwinkerndes Plädoyer an die schreibende Zunft lesen, doch bitte keine neuen Romane mehr zu schreiben
Von Marcus Neuert![RSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert](/rss/rss.gif)
Der Ritter-Verlag aus Österreich ist bekannt für die Veröffentlichung von Werken mit ausgesprochenem Experimentalcharakter wie etwa die aufzeichnensysteme von Hanne Römer oder dem der Konkreten Poesie zuzuordnenden Chris Bezzel mit seinem Roman namor. Für dessen posthume Herausgabe war Florian Neuner verantwortlich, der nun mit Die endgültige Totalverramschung der Liste der literarischen Herausforderungen an ein aufgeschlossenes und mainstream-überdrüssiges Lesepublikum einen weiteren, mehr als erwähnenswerten Titel hinzugefügt hat.
Neuner, geboren 1972 im oberösterreichischen Wels, lebt heute nach Studien der Germanistik und der Philosophie als Schriftsteller, Rundfunkautor und Herausgeber in Berlin.
In seinem Prosakonvolut Die endgültige Totalverramschung, welches sich laut Klappentext als „Konzeptroman“ verstanden wissen will, fügt Neuner Plot-Fragmente, Dialogextrakte, Auszüge aus Buchbesprechungen und Schnipsel von situativen Beschreibungen aus offenbar hunderten von Romanen verschiedener Zeiten und Genres zusammen. Dadurch entstehen jede Menge semantische Ungereimtheiten und vollkommen fluide Charaktere: Geschlecht, Alter, Herkunft und das Agieren der Figuren sowie Ort, Zeit und Kontext der Handlung changieren innerhalb von wenigen Sätzen und schaffen eine permanente Atmosphäre von Verunsicherung bei der Lektüre.
Hat man sich jedoch erst einmal an die sprunghaften Szenen- und Personenwechsel gewöhnt, liest sich der Neunersche Montage-Roman erstaunlich widerstandslos. Das Fehlen von innerem Zusammenhang wird durch die floskelhaften und austauschbaren Einzelteile in gewisser Weise kompensiert – die lesegeübte Wahrnehmung kann sich trotz der schillernden Rochaden an genügend Bekanntem festklammern, um nicht aus der Bahn geworfen zu werden. Mehr noch – es entsteht sogar eine gewisse Spannung, die gerade aus dem Unterlaufen der natürlich immer noch unterschwellig vorhandenen Erwartungshaltung bezüglich einer irgendwie erkennbaren Plausibilität der (Nicht-)Handlung erwächst.
Ein ironisches Lesevergnügen wird das Ganze nicht zuletzt dadurch, dass die Abstrusitäten in regelmäßigen Abständen durch formelhaft wiederkehrende Gemeinplätze wie „Die Dinge nehmen ihren Lauf“ oder „Aber die Geschichte geht noch weiter“ miteinander verbunden werden beziehungsweise in der einen oder anderen Variation auf die unmittelbare Lesesituation selbst abzielen: „Alle Hoffnung auf Sinn ist vergeblich“, „Ich schaffe es nicht, die beiden Teile zu verbinden“, „Die lineare Erzählweise ist aufgehoben“ oder „alles ist so unfaßbar, so unsäglich“.
Grundsätzlich neu ist diese Art literarischer Kompilation natürlich nicht. Was das Buch jedoch so besonders macht, ist die vertrackte Art und Weise der Anordnung, sowohl in der Gesamtstruktur wie auch im jeweiligen Textfluss. Ein wenig fühlt man sich an den Schweizer Kabarettisten Urs Wehrli erinnert, dessen Prinzip „Kunst aufräumen“ ihn unter anderem auch dazu führte, ein Gedicht von Goethe in seine einzelnen Worte aufzulösen und alphabetisch vorzutragen. Neuner adaptiert diese Vorgehensweise insofern als er fein säuberlich (und natürlich vollkommen roman-untypisch) drei Hauptstränge voneinander scheidet, nämlich Handlung, Figurenrede und Beschreibung, die jeweils getrennt voneinander literarisch bearbeitet beziehungsweise montiert werden. Diesen drei Feldern werden dann als Unterkapitel Ableitungen des Wortes „Ramsch“ zugeordnet: der Handlung neben dem „Ramsch“ der „Charme“ und der Befehl „Marsch!“, der Figurenrede die „Scham“ und die Aufforderung „Rasch!“ und schließlich der Beschreibung nur ein lapidares „Arsch“. In den Derivaten ändern sich also Schreibweisen und gehen einzelne Buchstaben verloren; so wird das Degenerierte des Romanprinzips augenzwinkernd vorgeführt. Wie es der Lektor Paul Pechmann in seiner Einführung beschreibt, steht diese Form heute vor allem für „das Sprachwerk einer sich schier endlos repetierenden Marketingmaschine […], Content […], der genauso gut von einer KI-Anwendung erzeugt werden könnte.“
Nun könnte man einwenden, dass das Konvolut, auf diese Weise umsortiert, ja gerade keinem Roman, sondern eher einem Wort-Steinbruch gliche. Das ist nicht zuletzt, wie die beiden Nachworte des Autors belegen, der Entstehung des Manuskripts geschuldet: die Kapitel aus der „Handlung“ wie später auch einzelne Teile der „Figurenrede“ sind ab 2019 bereits in verstreuter Form einzeln veröffentlicht worden. Was noch fehlt, nämlich die Klischees der „Beschreibung“, in welchen laut Florian Neuner „die ,Erzähler‘ in Wirklichkeit ihren künstlerischen Offenbarungseid leisten“, hat der Autor also folgerichtig für sein Projekt noch nachgeliefert. Die Lesegemeinde bleibt also aufgerufen, sich ihren Lieblingsroman gewissermaßen selbst zu mischen. Gleichzeitig schimmert die unmissverständliche Botschaft an alle Schreibenden auf: hört endlich auf Romane zu schreiben, die die Welt nicht braucht – weil es sie schon längst gibt.
Das von Neuner verwendete Verfahren der literarischen Montage streift natürlich auch wieder einmal die alten Fragen nach der Autorschaft. Liegen die Geschichten nicht auf der Straße, erzählen sich selbst und sind letztlich alle auf die Mythen der Ahnen und die immer gleichen Mechanismen der Heldenreise zurückzuführen? Wer literarisch erzählt, hält ja vielleicht wirklich nur eine Hand in den Strom des einen und ewigen Romans, der sich aus den acht Milliarden Menschen und ihren Welten, Kulturen und Lebensbedingungen speist – und aus denen ihrer Milliarden von Vorfahren. Ein Spiel mit dem Eindampfen von Essentiellem bei gleichzeitiger Konkretisierung des Einzelfalls, in Abertausenden von Variationen. Wäre es nicht an der Zeit, dass dies langsam einmal zu einem Ende kommt?
Die zu vermutende Kürze der jeweiligen Zitate dürfte zumindest keine Kollisionen mit dem (im Digital- und KI-Zeitalter ohnehin arg gebeutelten) Urheberrecht befürchten lassen und werden auch gar nicht erst benannt oder zugeordnet. Der ein oder andere Anknüpfungspunkt an zugrundeliegende Werke anderer Schreibender verschiedenster Zeiten wird je nach Lesegewohnheiten ohnehin nur individuell erschließbar sein.
Man könnte vielleicht etwas großspurig behaupten, Florian Neuner habe nicht weniger getan als den letzten möglichen „Roman“ auf dieser Erde zu schreiben. Und doch wird sich auch seine eigene Lesegemeinde sicher nicht davon abbringen lassen, schon gleich morgen wieder in der Buchhandlung des Vertrauens zu stöbern und zu schauen wie sich der neue Roman von XY anliest. Immer wieder zu erzählen und Erzähltes zu lesen oder ihm zuzuhören ist und bleibt wohl ein Grundbedürfnis menschlicher Existenz, über alle Zeiten, Kulturen und Medien hinweg – aber dessen Hinterfragung kann und muss vielleicht sogar von Zeit zu Zeit auch das Ziel von Literatur sein.
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